Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik
Zum Verhältnis von Psychoanalyse und Gesellschaftskritik
Lektürediskussion von „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“, Theodor W. Adorno 1955
● 22. Februar 2020, 11:00 bis 18:00 in der translib
● Die Zahl der Teilnehmenden ist auf 15 Personen beschränkt. Anmeldung unter: translib@gmx.de
Wenn wir uns die Frage stellen, warum die ArbeiterInnen, anstatt sich zusammentun und auf eine Aufhebung der sie knechtenden Verhältnisse zu drängen, am getakteten Fließband verharren, so ist eine mögliche Antwort: Die objektiven Bedingungen für eine revolutionäre Umwälzung sind wohl gerade nicht gegeben. Diese Antwort reicht nicht aus. Denn wir können uns auch historische Situationen anschauen, in denen die objektiven Weichen anscheinend günstiger gestellt waren, wie in der Novemberrevolution 1918/19, und müssen stutzen: Die Frauen, die die Revolution maßgeblich vorbereitet und getragen haben, wurden von ihren männlichen Genossen aus den Räten verdrängt, just als es daran ging, sich eine auf Emanzipation zielende Selbstorganisierung fernab der verknöchernden und verfeindeten Massenparteien zu geben. Die patriarchalen Strukturen haben sich als so zäh erwiesen, dass sie noch den revolutionären Moment überdauerten und verspielten. Warum begeisterten sich wenige Jahre später ProletariaterInnen für die „Katastrophenpolitik“ des Nationalsozialismus, die nicht zuletzt den eigenen Lebenserhalt bedrohte? So fragte Theodor W. Adorno 1955 in seinem Text „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“.
Zwischen objektiven und subjektiven Bedingungen für eine Revolution, objektiver und subjektiver Notwendigkeit geht ein Riss, der auf die Grenzen einer rein klassentheoretischen Gesellschaftsanalyse hinweist. Eine Auseinandersetzung mit dem Geschlechterverhältnis und Patriarchat geht ebensowenig in einer Kritik der politischen Ökonomie auf. Es stellt sich die Frage nach den gesellschaftlichen Erfahrungen, die sich im Subjekt niederschlagen und dies bringt uns zur Psychoanalyse. Sigmund Freud gab nicht nur mit seinen dezidiert kulturtheoretischen Schriften wie dem „Unbehagen in der Kultur“, sondern auch mit der Triebtheorie und Neurosenlehre einen Anhaltspunkt für die libidinösen Verstrickungen in die Zurichtung kapitalistischer Lebensverhältnisse. Es liegt allerdings eine Schwierigkeit in der psychoanalytischen Betrachtung: Sofern sie sich auf ein Kreisen ums Subjekt allein verengt und die Gesellschaftsverhältnisse außenvorlässt, landen wir in einem entpolitisierten Psychologismus, im schlechtesten Falle in einer psychoanalytischen Fachsimpelei, die ihren politischen Verstehenswillen verloren hat. Eine Übertragung psychoanalytischer Bestimmungen zum Subjekt auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht unvermittelt möglich und droht regelmäßig, ins Grobschlächtige oder schablonenhaft Spekulative abzugleiten.
Wir wollen uns deshalb in dem Lektüreseminar grundlegend darüber verständigen, wie die komplizierte Verflechtung der Individuen in die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse, die über ihnen walten und zugleich von ihnen hervorgebracht werden, zu begreifen ist. In welchem Verhältnis kann somit die Psychoanalyse zu einer Gesellschaftskritik stehen? Dafür wollen wir gemeinsam den Text „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“ (1955) von Theodor W. Adorno diskutieren.