Vorläufige Gedanken über die Gilets Jaunes
Vorläufige Gedanken über die Gilets Jaunes
Wir präsentieren die deutsche Übersetzung eines Thesenpapiers französischer GenossInnen, das zuerst am 15. Dezember 2018 auf der Seite Agitations erschienen ist.
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1. „Le peuple“ und der Benzinpreis
Es war der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Eine Erhöhung der CO2-Besteuerung ließ die Wut derer explodieren, die unter dem Abbau des Sozialstaats am stärksten zu leiden haben. Aber warum war die CO2-Steuer dieser Tropfen? Warum war es nicht der Angriff auf das Arbeitsrecht, der durch das Gesetz der ehemaligen Arbeitsministerin Miriam El Khomri vorbereitet und durch die Macron-Regierung fortgesetzt wurde, warum war es desweiteren nicht die Privatisierung der Eisenbahn? Weil ein leerer Tank für viele einem Hausarrest gleicht. Für die an die Peripherien des sozialen Raums abgeschobenen Personen, die Bewohner_innen der Stadtränder und des Landes, stellt das Auto die letzte Möglichkeit dar, an dem, was vom gesellschaftlichen Leben übrig ist, teilzuhaben. Das Auto ermöglicht es, diese Gebiete zu verlassen. Nicht selten wird das Auto daher als eine zentrale Bedingung für Sozialität empfunden. Eine Warnweste anzuziehen, bedeutet hier aus der bis dahin passiv ertragenen Unsichtbarkeit zu entkommen. Zunächst werden an den Kreuzungen und Zahlstationen Beziehungen untereinander (wieder)hergestellt, um anschließend in den urbanen Zentren, der Hauptstadt und ihrem symbolischen Zentrum, den Champs-Élysées, zusammenzulaufen. Die ökonomische Erfahrung des sozialen Ausschlusses wird als umso beleidigender empfunden, als man sich so etwas wie dem „Volk“ (peuple) zugehörig weiß, im Sinne von „die von unten“, diejenigen, die Probleme haben über die Runden zu kommen. Überall in der Hauptstadt, die plötzlich von Individuen und Gruppen belagert wird, welche zum Teil noch nie zuvor in Paris waren, sieht man jetzt Graffitis und Parolen, die sich auf die Französische Revolution beziehen. Die einzige revolutionäre Tradition, die gegenwärtig eine kollektive politische Idee scheinbar wiederherzustellen vermag, hat nichts mit der Arbeiter_innenbewegung zu tun, sondern nährt sich aus dem nationalen Narrativ der Revolution von 1789. Die Präsenz nationaler Symboliken – von der Tricolore bis zum Singen der Marseillaise -, die die Blockaden, Demonstrationen und Unruhen prägt, darf jedoch nicht überinterpretiert werden. Da laut den ersten soziologischen Untersuchungen sich nur 12,7% der Gilets Jaunes als politisch rechts und 5,4% als rechtsextrem[1] bezeichnen, kann die Bezugnahme auf die nationale Symbolik auch als ein Ausdruck des Mangels an kollektiven Symboliken gedeutet werden. Zugleich drückt sich in ihr eine Form politischer Anonymität aus, sowie der Bruch mit den existierenden Parteien und Gewerkschaften. Diese ständige Referenz auf die revolutionäre Nation verdeutlicht nur, in welchem Ausmaß das Verschwinden der Arbeite_innenidentität seit den 1970er Jahren auch einen Verlust des historischen Bewusstseins für die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung in großen Teilen des Proletariats zeitigte. Der Moment der Wiedererinnerung, der jeden Kampf begleitet, müsste in diesem Falle dazu führen, dass die Gilets Jaunes eine fernere Vergangenheit wieder auferwecken.
2. Nation und Selbstorganisierung
Die Identifikation mit einer revolutionären Tradition, die dem König Macron das „Volk“ (peuple) gegenüberstellt, bedeutet folglich nicht, dass sich die gesamte Bewegung um die Idee einer präexistenten nationalen Gemeinschaft herum konstituiert, die, wie man weiß, auf den Rassismus angewiesen ist, um sich auf ein ursprüngliches Territorium und eine imaginäre Herkunft beziehen zu können. Die Kritik der meisten Gilets Jaunes zielt auf die soziale Ungerechtigkeit ab, und zwar in ihrem unmittelbarsten Sinne als der Erfahrung sich verschlechternder materieller Existenzbedingungen. Die Bewegung entstand zunächst als Kritik an Steuererhöhungen, die Forderungen verschoben sich jedoch und schlossen bald auch eine gerechtere Verteilung des Reichtums (Anpassung der Vermögenssteuer) und eine Verbesserung der Lohnverhältnisse (Erhöhung des Mindestlohns, Inflationsbereinigung der Löhne) mit ein. Im Augenblick ist dieser Turn in Richtung Lohngerechtigkeit und verbesserte Arbeitsbedingungen allerdings nicht dominant innerhalb der Bewegung der Gilets Jaunes, die durch eine politische Subjektivität geprägt wird, welche sich nicht mehr als Lohnabhängige, sondern in erster Linie als Konsument_in definiert. Der einzige Verhandlungspartner der Gilets Jaunes ist der Staat, und nicht die Kapitalistenklasse. Von diesem wird eine bessere Verteilung des Reichtums gefordert. Die Bewegung zielt nicht auf das System der Rente ab, obwohl dieses in der Explosion der Wohnungspreise sehr sichtbar wird, sondern auf die Steuererhöhungen, die als eine illegitime Intervention des Macron-Staates in die Ökonomie der „kleinen Leute“ empfunden wird. Es ist primär diese Anprangerung der Steuerungerechtigkeit, um die sich die Lohnabhängigen, Arbeiter_innen, Handwerker_innen, Kleinbürger_innen, Selbstständige und, in einem geringeren Maße, Führungskräfte versammeln. Als Grund für diese Ungerechtigkeit wird ein Mangel an Demokratie ausgemacht bzw. die Instrumentalisierung demokratischer Mittel, um die Privilegien einer herrschenden Kaste zu sichern. Einige wenige antikapitalistische Parolen wurden kaum übernommen und sind bald wieder verstummt unter dem kollektiven Rufen von „Macron démission“ (Macron Rücktritt). Im Augenblick scheint der Rücktritt der Regierung das Hauptziel der Bewegung darzustellen. Damit verbinden einige Gilets Jaunes gar eine Veränderung der Verfassung, um die Kontrolle des Präsidenten durch das Volk zu garantieren. Der Staat ist folglich bis jetzt der einzige Bezugspunkt und Adressat der Bewegung geblieben, die sich zugleich jedoch auch nicht durch die wenigen am 10. Dezember verkündeten Zugeständnisse bezüglich des Mindestlohns und des Erhalts von Zuschlägen zufriedenstellen lässt. Der V. Akt am Samstag den 15. Dezember könnte nun zeigen, ob es im Grunde bloß um eine Änderung des politischen Personals geht. Würde es ausreichen, dass Macron zurücktritt? Das politische Verlangen der Gilets Jaunes wäre folglich als eine Fortsetzung der Bewegung der Plätze, der Indignados, zu deuten. Diese reagierte auf die ökonomische Desintegration mit der Überhöhung einer neuen politischen Subjektivität: einer „nouvelle subjectivité citoyenne“. Aber drückt die Forderung nach Macrons Rücktritt nicht auch die Verweigerung jeder Verhandlung aus? Der Präsident als einziger Verhandlungspartner, den man zugleich jedoch loswerden möchte? Es würde sich folglich um eine illegitime Forderung handeln, die ihren illegitimen Charakter offen zur Schau stellt, da bekannterweise die Kapitalisten und die aufeinanderfolgenden Regierungen die Forderungen der Lohnabhängigen seit 40 Jahren als illegitim behandeln. Diese Illegitimität, diese Nicht-Anerkennung wäre es, die neue Protestformen begründen könnte, denen es nicht mehr um Verhandlung, sondern ausschließlich um die Ablehnung der Politik ginge. Und wenn es nichts mehr zu verhandeln gibt, gibt es auch keine Repräsentanten mehr… Auf der anderen Seite bedeutet die Vorstellung, Teil einer revolutionären Nation zu sein, die durch die Erfahrung der Prekarität und der Vereinzelung verstärkt wird, nicht notwendigerweise die Identifikation mit dem existierenden französischen Staat. Der genaue Inhalt dieser Idee einer Nation ist gegenwärtig noch umstritten. Möglicherweise öffnet sie sich und schafft – nicht ohne interne Kämpfe – die Möglichkeit, dass sich das Proletariat (einschließlich der Banlieues) und die prekarisierten Teile der Mittelschicht gemeinsam artikulieren und Kämpfe führen können. Möglicherweise schließt sie sich jedoch auch und verstärkt die Opposition der „echten Franzosen“, die der Globalisierung der Eliten und Migrant_innen eine rassistische Gemeinschaft gegenüberstellen. Das ist nur eine der momentan beobachtbaren Spannungen innerhalb der herrschenden Polyphonie. Angesichts dieser Offenheit bewegt sich die radikale Linke vor allem um drei Positionen. Ein Teil der Linken zieht sich auf eine starre Position zurück. Bedingt durch den unfertigen Charakter der Bewegung und einige Situationen, die einen Alltagsrassismus offenbaren, unterstellt man der Bewegung einen konfusen Charakter und drückt sich vor jeder soziologischen und historischen Analyse. Ein anderer Teil der Linken hat sich sofort ins Gefecht gestürzt und steht in vorderster Reihe. Hinter dieser Begeisterung steht die Hoffnung bzw. wohl eher die Verzweiflung, endlich Zeugen des nicht kommen wollenden Aufstandes zu sein. Zwischen diesen beiden Extremen findet man die Aufrufe, sich den Gilets Jaunes vorsichtig anzuschließen, zunächst „mal zu sehen“, um sich schließlich an den entstehenden Strukturen der Selbstorganisierung zu beteiligen, diese weiterzutreiben und zu unterstützen. Diese letzte pragmatische Position darf uns jedoch auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gilets Jaunes ohne die Organisationen der bestehenden Linken entstanden sind, und dass diese objektive Autonomie möglicherweise auch die Perspektive einer kommunistischen „Intervention“ obsolet macht.
3. Die Sprache der Gilets Jaunes
Auch wenn die wunderschönen Unruhen des 1. Dezember in Paris eine Art versöhnenden Charakter hatten und alle, vom zwanzigjährigen Arbeiter, der Paris entdeckte, bis zu den routinierten Mitgliedern des Black Block, zusammenführte, so spielen sich diese aufständischen Praktiken im Augenblick in einer bloßen Nähe zueinander ab, ohne jedoch wirklich zusammenzufinden, in einem temporären Zusammenhang, der nur durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wird: den Staat. Zugleich wird dieser Staat auch nicht in gleicher Weise adressiert: von den einen wird die gelbe Weste als Cahiers de Doléance[2] (Beschwerdeheft) betrachtet, während die anderen die Sprache der „Absetzung“ und der „Aufhebung“ sprechen. Wir sollten uns in jedem Falle über die Reichweite des Brandes nicht täuschen lassen. Dieser kann zwar Autos und Häuser erfassen, an den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ändert er zunächst einmal gar nichts. Dies gilt nicht in gleichem Maße für die Blockaden der Kreisverkehre und Kraftstofflager. Diese organisieren sich zwar in unregelmäßiger Weise, sodass die Blockierenden noch ihrer Lohnarbeit nachgehen können, nichtsdestotrotz zielen diese Blockaden auf die kapitalistische Zirkulation. Es wäre jedoch trügerisch diese Zirkulation der Produktion gegenüberzustellen, als würde es sich um zwei voneinander getrennte Sphären handeln. Eine solche Gegenüberstellung würde die Tatsache verschleiern, dass die kapitalistische Produktion genau darin besteht, Waren mit Waren zu produzieren. Diese Waren finden sich bekannterweise ausschließlich auf dem kapitalistischen Markt, dessen normales Funktionieren darauf angewiesen ist, dass die Waren normal zirkulieren. Überdies gewinnt der Kampf der Gilets Jaunes gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen leichter identifizierbare Gesellschaftsteile und Branchen für sich. Seit zwei Wochen kann man die Entstehung einer Schüler_innenbewegung beobachten, wie es sie in dieser Form noch nie gab. Diese Bewegung geht nun nicht mehr von den Schulen der städtischen Zentren aus, sondern speist sich aus den armen und abgehängten Gebieten. In der Kritik stehen die Reform des Schulsystems und der Sozialabbau. Gleichzeitig haben heute, am 14.12., die Eisenbahner_innen zu einem Streik gegen die Reformen der SNCF u.a. aufgerufen. All dies „folgt“ einer Dynamik, die mit dem gewohnten Szenario der sozialen Bewegung à la française bricht: einem immergleichen Spielplan, der im Februar/März beginnt und sich irgendwann im August erschöpft. Zugleich spielt sich die Bewegung auch weit genug entfernt von den nächsten Präsidentschaftswahlen ab, sodass niemand auf die Idee kommen könnte, eine Lösung an den Wahlurnen zu suchen, wie von Le Pen und Wauquiez vorgeschlagen. Wenn die Blockaden und Streiks sich vervielfältigen und zeitlich ausweiten, dann betreten wir eine neue Phase der Bewegung. Die Rechte, wie auch die extreme Rechte, könnte sich als „Partei der Ordnung“ in eine Einbahnstrasse begeben und Abstand zur Bewegung aufbauen. Oder aber sie gibt sich der Bewegung hin, ergreift Partei für die Arbeiter_innen, und riskiert damit einen internen Konflikt mit ihrer konservativ-bourgeoisen Fraktion. Das Hauptanliegen der Rassemblement National (ehemals Front National) scheint es vielmehr zu sein, Mittelsmenschen innerhalb der Institutionen und der großen Unternehmen zu finden, um irgendwann die Macht zu übernehmen. In dem Moment in dem wir diesen Text schreiben, hat der RN jedoch vor allem einen Wunsch: der Kampf soll sich im Ressentiment verlieren, in der Politik der halben Sachen, damit endlich wieder über Anderes gesprochen werden kann, zum Beispiel über den islamischen Terrorismus, den Migrationspakt von Marrakesch, und schließlich über irgendetwas, solange es nichts mit dem Kräfteverhältnis zu tun hat, das sich unter unseren Augen herstellt. Im Gegensatz dazu sind die gemeinschaftlich durchgeführten strategischen Aktionen Teil einer neuer politischen Idee (imaginaire), und diese darf nicht anhand dessen, was ihr im Hinblick auf dieses oder jenes Schema der „echten“ Revolution fehlt, beurteilt werden, sondern nur anhand dessen, was sie schon jetzt von der durch die endlose Niederlage der Kämpfe der letzten Jahrzehnte hergestellten Normalität unterscheidet. Der Kampf wird gegenwärtig außerhalb der konventionellen legalen und repräsentativen Rahmenbedingungen geführt. Er ist gewaltsam in seiner Ablehnung der Reden, die „von oben“ kommen, sei es vom Präsidenten sei es von den Medien. Menschen haben angefangen zu sprechen, die normalerweise niemand sprechen hört, was wiederum die Vorstellungen, die über diese Menschen gelegt wurden, in Frage stellt. Das enorme Misstrauen eines Teils der Radikalen sagt uns, dass im Grunde der provinzielle Teil des Proletariats als verloren für die Sache galt, verloren an eine hoffnungslose politische Apathie, oder schlimmer noch, an die Reaktion. Die Gilets Jaunes haben uns daran erinnert, dass man mit diesem Proletariat rechnen und mit dem, was seine Lebensbedingungen aus ihm gemacht haben, zurechtkommen muss, nämlich einer Bevölkerung, die sich den Luxus eines Daseins als Wissenschaftler_in oder Kritiker_in nicht leisten kann. Ja, die Gilets Jaunes drücken die soziale Frage in der Sprache von Steuerlast und Kaufkraft aus. Aber sie sprechen letztendlich die einzige Sprache, die man uns die letzten Jahrzehnten noch lehrte. Die Sprache der Niederlage, des kapitalistischen Realismus, der verratenen Träume, der Reduktion der Politik auf die Marktlogik, eine Sprache, die wir möglicherweise gerade verlernen.
Des communistes réunis entre l’acte IV et l’acte V
(Zwischen dem IV. und dem V. Akt versammelte KommunistInnen)
Dezember 2018
[1]Collectif, „Gilets jaunes“: une enquête pionnière sur la „revolte des revenus modestes“, Le Monde, 11 décembre 2018.
[2] Die Cahiers de Doléances (Beschwerdehefte) waren die Anweisungen der Wähler an die Abgeordneten der Generalstände. Als der französische König am 24. Januar 1789 seine Untertanen zur Wahl ihrer Abgeordneten für die Generalstände aufrief, forderte er sie gleichzeitig auf, diesen Abgeordneten Anweisungen zu geben, welche Probleme sie lösen sollten.