Seminar Teil 1: Funktionsweise des Antisemitismus
16.11.2024 | 11-17 Uhr | translib | Anmeldungen nicht mehr möglich
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem anschließenden Krieg im Gazastreifen sind Straftaten gegenüber Jüdinnen und Juden weltweit enorm angestiegen. In den öffentlichen Debatten in der Mehrheitsgesellschaft wie in der Linken ist das Thema Antisemitismus nach wie vor virulent. Häufig bleibt es dabei jedoch bei einem wenig produktiven, ritualisierten Austausch von Schlagworten. Auf der einen Seite entsteht der Eindruck, für die propalästinensische Protestbewegung sei der „Antisemitismusvorwurf“ problematischer als der Antisemitismus selbst. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser letztendlich tödlichen Ideologie war bislang zumindest kaum wahrnehmbar, ebenso wie glaubwürdige Abgrenzungen von einschlägigen Parolen, Symbolen und Akteur*innen weithin fehlen.
Gleichzeitig wird die Kritik des Antisemitismus von konservativen Kräften als Vehikel für eine aggressiv nationalistische Sicherheitspolitik missbraucht. Deutsche Politiker*innen stellen Antisemitismus als „importiertes Problem“ dar, das vermeintlich mit Abschiebungen und größeren Polizeibefugnissen eingedämmt werden könne. Derweil braucht der stellvertretende bayerischere Ministerpräsident Hubert Aiwanger für seine antisemitische Hasspropaganda aus Jugendjahren keine politischen Konsequenzen in der BRD befürchten. Der Verweis auf diese Instrumentalisierungsversuche des Antisemitismus seitens des Staates ist notwendig und richtig. Er wird jedoch selbst instrumentell und zweifelhaft, wo er lediglich dazu dienen soll, eine unentbehrliche – und auch selbstkritische – Reflexion der Linken über den Antisemitismus abzuwehren.
In einer dreiteiligen Reihe von Tagesseminaren wollen wir einen Beitrag zu einer solchen grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus leisten. In unserem ersten Tagesseminar am 16.11 2024 widmen wir uns dafür zwei zentralen Texten der Antisemitismusforschung: Klaus Holz‘ Aufsatz „Die antisemitische Konstruktion des ‚Dritten‘ und die nationale Ordnung der Welt“ (2004) und Shulamit Volkovs‘ „Antisemitismus als kultureller Code“ (1979).
Beide Texte versuchen keine gesellschaftstheoretische Erklärung über die Entstehungsgründe des modernen Antisemitismus, sondern schlagen eine Analyse seiner Funktionsweise vor. Für den Soziologen Klaus Holz steht dabei der enge Zusammenhang mit dem modernen Nationalismus im Vordergrund, in dem sich der Antisemitismus als eine spezifische Sinnstruktur von rassistischen Formen kollektiver Feindbestimmung auch nochmal unterscheidet. Die Historikerin Volkov wiederum zeigt anhand des Deutschen Kaiserreiches ab den 1870er Jahren die besondere kulturelle Funktion des Antisemitismus auf. Im modernen Antisemitismus erhält die Ablehnung einer spezifischen ethnoreligiösen Gruppe Symbolcharakter, die nationalen Zusammenhalt stiften und ein „Bündel von Ideen, Gefühlen und öffentlichen Verhaltensmustern“ vermitteln soll.
Ausgehend von dieser gemeinsamen begrifflichen Grundlagenarbeit wollen wir im Seminar auch Bezüge zu aktuellen Phänomenen und Debatten herstellen. Inwiefern fungiert Antisemitismus heute etwa als „kultureller Code“ und welche Bedeutung kommt ihm in nationalen Konstituierungsprozessen zu? In zwei weiteren Tagesseminaren im Frühjahr 2025 werden wir uns anschließend mit subjekt- und gesellschaftstheoretischen Erklärungsversuchen des Antisemitismus befassen.