In unserem Lesekreis zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Translib beginnen wir einen neuen Zyklus. Hinter uns liegt die Lektüre der Essays „Vom Scheitern der deutschen Arbeiterbewegung“ von Erhard Lucas und „Old Gods, New Enigmas“ von Mike Davis. Der Text von Erhard Lucas stellt sich die Frage, warum die so stark organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland vor dem Nationalsozialismus scheiterte und geht dafür anekdotisch von Alltagssituationen, Literatur und mikro-sozialen Beobachtungen aus. Der Text von Mike Davis ist der Versuch einer globalgeschichtlichen Periodisierung der Arbeiterbewegung und versucht mit dem Begriff der „agency“ Bedingungen von proletarischer Handlungsmacht zu bestimmen.

Die Lektüre beider Essays hat in unserem Kreis Diskussionen angeregt und immer wieder zu aktuellen Fragen von Organisierung und Gesellschaftskritik geführt. Wir waren aber auch unzufrieden – insbesondere der essayistische Stil beider Texte hat in uns das Bedürfnis nach fundierteren Analysen und allgemeingültigeren Erklärungsversuchen geweckt. Ausgehend von der zurückliegenden Lektüre wollen wir uns als Lesekreis nun das Buch „Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus“ von Alf Lüdtke vornehmen.

Das Buch nimmt Zeiträume in den Blick, mit denen wir uns im Lesekreis bereits beschäftigt haben. Es verspricht den Umstand zu erhellen, dass der Nationalsozialismus auch in großen Teilen von der deutschen Arbeiterschaft geduldet wurde, bis hin zur offenen Zustimmung. Dies soll mit der schillernden Kategorie des Eigensinns geschehen. Der Eigensinn kann widerständiger Impuls sein, er bedeutet aber nicht Emanzipation von Herrschaft. Als Distanz zum äußeren Geschehen kann er auch bedeuten, ihr einen „eigenen Sinn“ abzugewinnen. Lüdtke will so das Funktionieren von Herrschaft durchdringen, wobei er durch die Klassenverhältnisse hindurch immer auf handelnde Individuen und konkrete Umstände des Alltagslebens blickt.

„In der genaueren Rekonstruktion zeigt sich, daß Bürokratien, Parteien oder ‚Massen‘ nicht nur auf Kommando ‚von oben‘ parieren. Die Adressaten von Anforderungen, Verordnungen und Befehlen waren (und sind) keineswegs nur Marionetten. Beziehungen von Herrschaft wie Marktverhältnisse funktionieren nur dann, wenn Zwänge und Anreize von Herrschenden und Produzenten mit den Interessen und Deutungen, den Emotionen und Ängsten auch der anderen in ein Verhältnis gebracht werden, wenn Mitmachen oder Unterstützen, zumindest immer wieder erneutes Hinnehmen auch für die Abhängigen, für die, die sich machtlos fühlen, einen eigenen Reiz hat.“ (Aus der Einleitung von „Eigen-Sinn“)

Der Beginn des neuen Zyklus bietet für Interessierte eine gute Möglichkeit, neu in den Lesekreis einzusteigen. Dazu wollen wir euch herzlich einladen. Vorausgesetzt ist das Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung und an einer gemeinsamen Diskussion – spezifische Vorkenntnisse oder die Lektüre der vorangegangenen Bücher sind nicht notwendig.

Wir treffen uns in der Regel freitags, alle 2-3 Wochen, ab 18:30 Uhr in der Translib in Leipzig. (Kein Online-Lesekreis!) Wenn ihr mitmachen wollt, schreibt eine Email an: mail@translib.de