LEKTÜREKURS ZUR STAATSKRITIK
ab 01.12.2015 jeden zweiten Dienstag 19.00 Uhr

»Am Tage einer Revolution wird der staatliche Kollektivist, der Sozialdemokrat nach dem Parlament eilen und von dort seine Verordnungen über das System des Eigentums erlassen; er wird bestrebt sein, sich als eine mächtige Regierung einzusetzen, welche die Nase in alles hineinsteckt und Statistiken und Regeln über die Anzahl der Hühner im kleinsten Dorf aufstellt. Der Anhänger der unabhängigen Kommune wird auch aufs Stadthaus eilen und sich als Regierung einzusetzen versuchen; er wird verbieten, daß man das heilige Eigentum antastet, solange Gemeinderat dies nicht für zweckmäßig hält. Der kommunistische Anarchist wird hingegen das Prinzip verkünden, daß man sich um das Parlament der Gemeinden nicht kümmern soll. Die Arbeiter sollen an Ort und Stelle sofort die Werkstätten, Häuser, Getreidemagazine, kurz den gesamten gesellschaftlichen Reichtum zum Besitz der Gemeinschaft erklären. Der kommunistische Anarchist wird keine „revolutionäre Regierung“ erwählen, sondern in jeder Kommune, jeder Gruppe versuchen, das gemeinsame Produzieren und Konsumieren zu organisieren.«
Peter Kropotkin

WAS IST DER STAAT? Was haben die Menschen, die durch ihr Zusammenwirken im Alltag eine GESELLSCHAFT bilden, mit dem Staat zu tun – und umgekehrt, in welcher Beziehung steht der Staat zu ihnen? Diese Frage wissenschaftlich zu beantworten, würde eine der gravierendsten Unterentwicklungen in der Kritik der bestehenden Gesellschaft überwinden. Denn sowohl negativ wie positiv scheint der Staat der unhinterfragte Ausgangspunkt jeder Politik zu sein.

Wir gehen davon aus, dass die bestehende Gesellschaft grundlegend an der Frage des EIGENTUMS AN DEN GESELLSCHAFTLICHEN PRODUKTIONSMITTELN in GEGENSÄTZLICHE KLASSEN UND INTERESSEN gespalten ist. Auch wenn beide Klassen unter der gleichen Entfremdung leiden, äußert sich das ALLGEMEINE MENSCHLICHE INTERESSE an der revolutionären Aufhebung dieser Gesellschaftsform als das BESONDERE INTERESSE der Klasse der Proletarisierten, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen, und die den Reichtum diese Gesellschaft als fremdes Produkt, als Kapital produzieren. Aber immer wenn sich solche wirklichen gemeinsamen Interessen äußern, versucht der Staat sie von der Gesellschaft loszulösen, zu seiner Sache zu machen und den Klassenindividuen als ein allgemeines, höheres Interesse gegenüberzustellen. Der Staat erscheint so als Vertreter der Interessen aller auf seinem Territorium lebenden Bürger, unabhängig davon, welche Stellung diese im gesellschaftlichen Lebens- und Arbeitsprozess einnehmen – also als „Staat aller Bürger“ bzw. „des ganzen Volkes“. Diese Allgemeinheit, die der Staat für sich beansprucht zu vertreten, ist aber wegen der Spaltung der Gesellschaft in Klassengegensätze eine Fiktion. In Wirklichkeit stellt er nur die ALLGEMEINEN BEDINGUNGEN DER KAPITALISTISCHEN PRODUKTION sicher, von der er als einer auf der Einnahme von Steuern beruhenden Organisation ökonomisch abhängig ist. Deshalb ist auch die Vorstellung nicht völlig falsch, dass ohne den Staat Chaos und Barbarei ausbrechen werden – allerdings das Chaos und die Barbarei der ungezügelten BÜRGERLICHEN KONKURRENZGESELLSCHAFT. Wenn die Individuen aber die Konkurrenz zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Kooperation aufheben, indem sie die Produktionsmittel von Privat- in Gesellschaftseigentum umwandeln, schaffen sie damit die Grundlage dafür, ihre öffentlichen Angelegenheiten durch freien Zusammenschluss zu regeln, statt sie an den Staat abzutreten.

Als Staat des Kapitals tritt dieser aber nicht nur als LEVIATHAN auf – als Souverän, der symbolisch mit Schwert und Waage herrscht, sich in seiner modernen Form einer professionalisierten Verwaltung sowie einer regelhaften und damit nachvollziehbaren Vertragsfreiheit bedient, das heißt der für alle ohne Unterschied geltenden RECHTSFORM. Er führt schon immer sein diffus negatives Alter Ego mit sich: den BEHEMOTH, die entfesselte, fragmentierte Gewalt, die sich als Polykratie ausdrückt – dem Nebeneinander verschiedener Machtgruppen, zwischen denen reine Willkür und keine rechtsförmig vermittelte Beziehung herrscht. Verwirklicht sich dieses Chaos der Gewalten, verkommt das Recht zum bloßen Handlanger der Willkürherrschaft und seine Rationalität wird restlos aus seinem Rechtsmantel herausgeschält. Der im allgemein geltenden Recht garantierte Schutz des Individuums wird preisgegeben, der Staat und sein Volk ballen sich in einem Schmelztiegel krisenhafter Vergesellschaftung zusammen. Die Konzentration von ökonomischer Macht und politischer Gewalt über der Gesellschaft spitzt sich aufs Äußerste zu. Die Gemeinschaftsideologie, ob völkisch oder religiös, sowie das Führer-Prinzip stellen den Kitt dar, der über die realen Klassengegensätze hinweggeht und damit jeden gesellschaftlichen Widerspruch einebnet, um innere Vereinheitlichung bis zum Umschlag in einen gesellschaftlichen Wahn zu steigern.
Dieser schlechten Aufhebung des modernen bürgerlichen Staates, der bürokratisch-zentralistischen Machtmaschinerie, wie sie an Verhältnissen der „failed states“ beobachtet werden kann, müssen sich die ZIVILISIERTEN Feinde des Staates bewusst sein und stellen.Die Staatsgewalt revolutionär zu brechen, kann deshalb nicht einfach bedeuten, sie nach unten zu zerstreuen, sondern ihr den SELBSTBEWUSSTEN UND EMANZI-PATORISCHEN GEBRAUCH DER GEWALT aller Gesellschaftsmitglieder entgegenzusetzen, die für ein Ende der gesellschaftlichen Trennungen kämpfen – Trennungen, die mit Notwendigkeit immer wieder ins barbarische Hauen und Stechen der Vorgeschichte der Menschheit führen.

Als Proletarisierte sollten wir uns keine Illusionen über die herrschende Gesellschaftsordnung machen. Ihr Zweck sind nicht wir als Individuen, sondern umgekehrt sind wir nur das Mittel zur Aufrechterhaltung ihres Spektakels. Wenn das Kapital uns als auszubeutende Arbeitskräfte nicht braucht, werden wir aufs Pflaster geworfen. Und wenn wir versuchen, die bestehende Gesellschaft aufzuheben, werden wir es mit ihrem BEWAFFNETEN GARANTEN der Staatsgewalt zu tun bekommen. Das ist keine idyllische Aussicht und deshalb werden wir uns äußerste Klarheit über den Staat verschaffen müssen, um vor diesem Monster, als das es schon der klassische bürgerliche Staatstheoretiker Thomas Hobbes allegorisch bezeichnet hat, nicht zu erstarren.

»Die älteste gesellschaftliche Spezialisierung ist es, die Spezialisierung der Gewalt, die an der Wurzel des Spektakels liegt. Das Spektakel ist somit eine spezialisierte Tätigkeit, die für die Gesamtheit der anderen Tätigkeiten spricht. Es ist die diplomatische Repräsentation der hierarchischen Gesellschaft vor sich selbst, wo jedes andere Wort verbannt ist. Hier ist das Modernste auch das Archaischste.«
Guy Debord

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Leviatan

Der Leviathan – das ist keine idyllische Aussicht.