„Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, da die Normalität das Problem war“

Diskussionsabend mit chilenischen Genoss_innen zum Aufstand in Chile

Seit Mitte Oktober kommt Chile nicht mehr zur Ruhe. Spontane Proteste von Schülerinnen und Studentinnen gegen eine Fahrpreiserhöhung vermochten es, mit der schrecklichen Normalität zu brechen, die viele Chileninnen seit Jahrzehnten verarmt und verschuldet in einer „Oase des Wachstums“ (Präsident Piñera) gefangen hält. Dieser Moment barg nun enorme Sprengkraft in sich. Den jungen Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung schlossen sich sogleich Arbeiter_innen, ein urbanes Sub-Proletariat, die indigenen Mapuche, wie auch Teile der prekären Mittelschicht an. Aus einem limitierten Protest gegen Verteuerung wurde schnell eine soziale Mobilisierung gegen die gesamte politische Ordnung. Der Staat reagierte prompt und, wie in Chile üblich, mit brutaler Repression. So hat die Bewegung bereits zahlreiche Tote zu beklagen, ebenso wird über Folter, Vergewaltigungen und das Verschwindenlassen von Demonstranten berichtet. Die Regierung hat mittlerweile die Erhöhung zurückgezogen und weitere Zugeständnisse gemacht. In einem letzten Versuch, die Lage zu beruhigen, hat Piñera die Bildung einer von der Opposition geforderte verfassungsgebende Versammlung in Aussicht gestellt. Trotz der massiven staatlichen Gewalt und entgegen der Befriedungsversuche der Regierung halten die Proteste an und anstatt „zur Normalität zurückzukehren“ sind viele Leute weiterhin auf der Straße. Stellenweise haben sich lokale Versammlungen gebildet, die als Orte der Diskussion und der Selbstorganisation dienen.

Wir haben gemeinsam mit chilenischen Genoss_innen aus Leipzig die Proteste in Chile in den Kontext der globalen Revolten eingeordnet, über die chilenische Normalität und die Proteste dagegen gesprochen und uns darüber ausgetauscht, wie mit dieser Normalität gebrochen werden kann.

In dem Mitschnitt hört ihr zunächst eine Einführung von uns, anschließend folgt das Gespräch mit den Gästen. Die lebhafte Publikumsdiskussion haben wir nicht mitgeschnitten, einen kleinen Einblick gibt es aber unten.

Ein Auszug aus der anschließenden offenen Diskussion:

Im Anschluss an das hier nachzuhörende Gespräch ergab sich an dem Abend noch eine längere Publikumsdiskussion. Da der Mitschnitt mit dem Thema der Verfassung endet, wollen wir  einige in der weiteren Debatte geäußerte Zweifel an der Hoffnung auf eine neue Verfassung dokumentieren, weil wir sie bedenkenswert finden.

Die Orientierung auf eine neue Verfassung ist der zentrale Fokus der Opposition und findet innerhalb der Bewegung großen Widerhall. Dies verwundert nicht, da die geltende Verfassung der heutigen parlamentarischen Demokratie weitgehend unverändert von der Pinochet-Diktatur übernommen wurde. Die aktuelle Verfassung räumt der Exekutive und dem Militär große Macht ein, während sie progressive Reformen zugunsten der ArbeiterInnenklasse systematisch behindert.

Trotzdem, so der Einwand, sollten wir uns keine Illusionen über etwaige Spielräume für soziale Reformen in Chile machen, die durch eine Änderung der Verfassung eröffnet würden. Unter den Bedingungen schleppender Kapitalakkumulation sind die Regierungen auch der führenden kapitalistischen Staaten auf einen „neoliberalen“ Kurs eingeschwenkt, ähnlich dem, der in Chile durch die Verfassung kodifiziert ist. Der Rückbau sozialer Sicherungssysteme, die Drangsalierung der Arbeitslosen, Kürzungen sowie Privatisierungen im Bildungs- und Gesundheitswesen bestimmen die Politik auch derjenigen Länder, die – wie die BRD – die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, Grund und Boden zum Zweck des Allgemeinwohls rechtlich gestatten.

Das Ziel dieser Politik ist die Schaffung attraktiver Anlagesphären für Kapital und die Prekarisierung der ArbeiterInnen, um ihren Widerstand gegen verschärfte Ausbeutung zu verringern. Dies ist folgerichtig, da in dieser Gesellschaft alles von der gelingenden Verwertung des Kapitals abhängt. Ohne Profite keine Investitionen, ohne Investitionen kein Wirtschaftswachstum und keine Jobs. Die gegenwärtige Verfassung des Kapitalismus – sei es in den Zentren oder in der Peripherie – bietet kaum Spielraum für Reformen. Davon zeugte zuletzt auch das Scheitern der neo-sozialdemokratischen Experimente in Südeuropa. Auch eine neue Verfassung würde an der ökonomischen Krise des globalen Kapitalismus nichts ändern, die die materielle Basis der staatlichen Politik darstellt.

Außerdem könnte der Prozess zur Schaffung einer neuen Verfassung den Protest der Straße in den langsamen Prozeduren der staatlichen Politik versickern lassen. Auch einige GenossInnen in Chile lehnen aus dieser Befürchtung das Befriedungsangebot von oben ab, sie misstrauen dem Sozialpakt und der Mitarbeit an einer neuen Verfassung. Sie haben dazu aufgerufen, die Mobilisierung aufrechtzuerhalten und den Ausbau lokaler Versammlungen voranzutreiben. Diese Versammlungen können als autonome Organisationsformen und Machtorgane der Lohnabhängigenklasse dienen.

In einem chilenischen Text, der von der Schweizer Gruppe eiszeit übersetzt wurde, wird von der Notwendigkeit einer Ausweitung der Versammlungen auf die Betriebe gesprochen, um insbesondere die zentralen Produktionssektoren zu erfassen.[1] Nicht nur weil hier reale Perspektiven auf eine Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung aufscheinen, sondern auch, weil dies den Druck auf die Regierung und die politische Klasse als Ganze aufrechterhält, die so eher zu Zugeständnissen gezwungen werden können, als durch konstruktive und friedliche Mitarbeit.                                                                                                  


[1]„Es wird keine Veränderung möglich sein solange die Lebens- und Produktionsmittel nicht in den Händen der Arbeiter*innen sind. Wir müssen uns den Reichtum, den wir erzeugen, aneignen und selbst entscheiden, wie und was produziert wird. (…) Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Reproduktion der Lebensbedingungen, die vom Staat gewährleistetet wird, immer zugleich auch die Gewährleistung der reibungslosen Herrschaft einer Klasse über eine anderen beinhaltet. Dadurch wird der Kapitalismus zementiert. Mit oder ohne Verfassungsänderung wird der Staat immer über die Aufrechterhaltung der Ausbeutung wachen und die wesentlichen Grundlagen dieser Gesellschaft, nämlich Privateigentum und Lohnarbeit, intakt lassen.“ Siehe: https://kosmoprolet.org/de/territoriale-vollversammlungen-autonome-strukturen-des-kampfes bzw. https://proletariosrevolucionarios.blogspot.com/2019/11/chile-todo-el-poder-las-asambleas.html