MATERIALIEN ZUM PREC (1974/75)

Die „translib – communistisches labor“ hat im Frühjahr 2014 – zum 40-jährigen Jubiläum der sogenannten „Nelkenrevolution“ – mit der kritischen Aufarbeitung der vergessenen revolutionären Bewegung in Portugal von 1974/75 unter dem Titel „Der Maulwurf und die Nelken – Krise und Revolution in Portugal von 1974 bis 2014 begonnen. Dies kann als ein Beitrag verstanden werden zu unserem im Koalitionspapier formulierten Anspruch, die „Traumata der modernen Emanzipationsgeschichte aufzuarbeiten“. Zum 40. Jahrestag des konterrevolutionären Putsches, der diese Revolution erfolgreich abwürgen konnte, haben wir Ende des vergangenen Jahres 2015 die Reihe fortgesetzt und vorerst abgeschlossen. Damit das Ganze nicht nur Schall und Rauch ist, legen wir hier folgende Materialsammlung zur kritischen Einsicht vor, die den Beiträgen entspricht, die am Eröffnungsabend der Reihe, am 30. April 2014, vorgestellt wurden (siehe auch folgenden Bericht). Wir hoffen, dass an der modernen Revolutionsgeschichte interessierte Personen damit selbständig weiterarbeiten können.


DER MAULWURF UND DIE NELKEN / GLIEDERUNG:

EINLEITUNGSBEITRAG

ERSTER BLOCK:
2. Maren Sell: „Wer hat die Macht in Portugal“
3. WDR Videoclip (1. Mai und PIDE Knast)
4. Tony Cliff: „Portugal vor der Entscheidung“
5. Jorge Semprun: „Der soziale Krieg in Portugal“
6. Ausschnitt aus dem Debord Film „Réfutation …“
7. Robinson: „Arbeiterräte in Portugal 1974/1975“
8. Ausschnitt aus dem Film „Setúbal, Ville Rouge“
9. Charles Reeve: „Die portugiesische Erfahrung“

ZWEITER BLOCK:
10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)
11. Ausschnitt aus dem Film „Nous ouvrières de la Sogantal“
12. „Neue portugiesische Briefe“
13. „Sexismus in Revolution und Konterrevolution“
14. Clip über die Demonstration am 13. Januar 1975
15. „Sexismus in Revolution und Konterrevolution“

AUSKLANG MIT DEN SEQUENZEN ÜBER PORTUGAL 1975 AUS DEM DEBORD-FILM [„Réfutation de tous les jugements, tant élogieux qu’hostiles, qui ont été jusqu’ici portés sur le film ‚La société du spectacle‘„], DAZU EINGELESEN DIE BRIEFSTELLE AN AFONSO MONTEIRO IN VERSCHIEDENEN SPRACHEN.


EINLEITUNGSBEITRAG

In der Veranstaltungsreihe „Der Maulwurf und die Nelken – Krise und Revolution in Portugal von 1974 bis 2014“ wollen wir uns aus Anlass des 40. Jahrestages der sogenannten Nelkenrevolution kritisch mit den Ereignissen in dieser Zeit auseinandersetzen. Dabei ist für uns der Ausdruck Nelkenrevolution schon problematisch, weil es sich bei dem Putsch der Armee am 25. April1974 gegen das faschistische Regime nicht um eine grundlegende Umwälzung handelt, sondern dieser Umsturz noch in vielerlei Hinsicht in Kontinuität zum alten Regime stand. Wir wollen lieber, wie das auch in Portugal gemacht wird, vom „Processo Revolucionário Em Curso” sprechen, der die Periode kennzeichnen soll, in der sich vom Putsch im April 1974 an bis Ende 1975 noch keine neue bürgerliche Ordnung konsolidieren konnte. In dieser Zeit gab es in Portugal eine revolutionäre Bewegung, die immer mehr an Dynamik gewann und sich immer eindeutiger auf die Aufhebung des bürgerlichen Eigentums als der Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft richtete. Das heißt: auf die Aufhebung des privaten Eigentums der Klasse der Kapitalisten und Grundbesitzer an den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmitteln, das die Mehrzahl der wesentlich eigentumslosen Menschen dazu zwingt, ihre Arbeitskraft für Lohn zu verkaufen und für eine fremde Macht zu arbeiten; eine Aufhebung dieser Form der Gesellschaft hin zu einer kommunistischen Produktionsweise, in der die Produzenten selbst die Mittel ihrer Produktion besitzen, diese bewusst planen und sich das Produkt ihrer Arbeit aneignen. Die ersten Schritte zu so einer gründlichen, proletarischen Revolution wurden in Portugal in den Jahren 1974 und 1975 bereits gegangen, indem sich die Arbeiter_innen in Räten organisierten und teilweise damit begannen, Betriebe und Ländereien zu besetzen, und damit das bürgerliche Eigentumsprivileg radikal infrage stellten.

Diese revolutionäre Geschichte als eine von Klassenkämpfen ist heute durch ein verkehrtes Bild der Geschichte, durch das Spektakel der Geschichte der sogenannten Nelkenrevolution verdeckt und verdrängt. Das sollte mit der Gegenüberstellung des Maulwurfs und der Nelken im Titel der Veranstaltungsreihe angedeutet werden. Der Maulwurf wird von Karl Marx als Bild für das Proletariat und seine subversive Rolle in der bürgerlichen Gesellschaft verwendet. Seine unterirdische Wühlarbeit ist zunächst für den oberflächlichen Betrachter gar nicht sichtbar, tatsächlich kann sie aber dazu führen, dass ein ganzes Gesellschaftsgebäude unterminiert oder unterhöhlt wird und daraufhin zusammenstürzen muss. In Portugal können wir, wenn wir der Logik dieses Bildes weiter folgen, den Maulwurf dabei sehen, wie er beginnt, seinen Kopf aus dem Untergrund zu heben, und anfängt, offen und explizit, mit Willen und Bewusstsein für seine eigenen Ziele zu kämpfen. Die herrschende Zunft der Historiker, die sich den offiziellen Standpunkt der Geschichte zu eigen macht, vertritt die Sieger der Geschichte, die immer noch herrschende Klasse, und kann diese subversive Wühlarbeit des Proletariats nur als Chaos deuten, weil für sie die einzig geltende gesellschaftliche Ordnung eben die herrschende bürgerliche Ordnung ist. Für sie stellt sich die Geschichte als Geschichte der großen Männer dar; im Fall Portugals als Geschichte der Militärs und der Politiker. Die Offiziere, die im April 1974 den Putsch organisierten, haben Portugal dankbarer Weise die Demokratie geschenkt und damit, nach einigen lästigen Friktionen durch aufmüpfige Arbeiter_innen, ins ewige Reich der Freiheit geführt. Die Nelken, die den Soldaten am Tag des Putsches in ihre Gewehre gesteckt wurden, sind zum kitschigen Schmuck und Symbol dieser Geschichtslegende geworden. In Wirklichkeit war aber folgendes der Fall: die portugiesische Gesellschaft steckte schon mindestens seit Anfang der 70er Jahre in einer schweren Krise, aus der sie sich bei Fortführung der Kolonialkriege, die fast die Hälfte des Staatshaushaltes verschlungen haben, nicht mehr erholen konnte. Voraussetzung dafür, diesen Krieg zu beenden, war der Sturz der herrschenden Faschisten, die nicht bereit waren, an die Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien Konzessionen zu machen. Das haben irgendwann auch einige Vertretern des alten Regimes erkannt, die sich dann für eine politische Modernisierung des portugiesischen Staatsapparates aussprachen. Zugleich war die portugiesische Gesellschaft innerlich völlig zerrissen und von einer großen Welle von Klassenkämpfen gezeichnet. Der Ausbruch der vielen Streiks nach dem April 1974 ist eine Fortsetzung dieser Kämpfe, die bereits vorher begonnen haben. Viele Komitees der Arbeiter_innen existierten schon während der Zeit des Faschismus im Untergrund und mussten deshalb nach dem Putsch gar nicht neu gegründet werden, sondern traten einfach ins Tageslicht der Geschichte. Die Klassenkämpfe hatten also ihre eigene Kontinuität, unabhängig von den Manövern der Politiker und Militärs, und ihre Niederlage Ende 1975 kann nur ein Aufschub sein, solange ihre gesellschaftliche Grundlage weiter besteht und für die ungeheure Mehrzahl der Menschen immer wieder zu katastrophalen Folgen führt. Dafür steht das Rhizom, das Wurzelwerk der Nelken, im Sinne ihrer wirklichen geschichtlichen Grundlage.

Die hier kritisierte Vorstellung von Geschichte, verstanden als Resultat der Aktionen bedeutender Männer, ist auch eine zutiefst patriarchale und sexistische. Und das trifft gerade auf Portugal und seine Tradition des Machismo zu, der leider auch den proletarischen Maulwurf geprägt hat, was ebenfalls in der Gegenüberstellung in der Überschrift der Veranstaltungsreihe von: „DER Maulwurf und DIE Nelken“ zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Rolle der Frauen blieb meistens nur dekorativ, und die Vorstöße gegen ihre Unterdrückung als Frauen wurden oft vom männlichen Teil der Arbeiter_innen zurückgedrängt

In der heutigen Veranstaltung soll durch Lesungen von Auszügen aus verschiedenen Büchern und Broschüren – alle geschrieben von Zeitzeug_innen und Teilnehmer_innen – ein erster Eindruck über diese beiden Komplexe ermöglicht werden: also über die subversive Tätigkeit des proletarischen Maulwurfs und über die Rückständigkeit in Bezug auf die barbarische Herrschaft von Männern über Frauen.


2. Maren Sell: „Wer hat die Macht in Portugal“

Maren Sell: Wer hat die Macht in Portugal. In: Wolfgang Dreßen (Hrsg.): Jahrbuch Politik Band 6. Berlin 1974

Im großen Ganzen kann man sagen, daß sich der portugiesische Kapitalismus in den sechziger Jahren Europa zuwendet. Ab 1962 fließt Fremdkapital ins Land. Die Profitspanne der Industrie nimmt beträchtlich zu, während die Landwirtschaft völlig stagniert. Die gesamte Landwirtschaft stellt nicht mehr als 15-18% des Nationalproduktes dar. Das ist ebensoviel wie ein einziger Industriesektor.
Die traditionellen Branchen (Textil) entwickeln sich zurück. Dafür wachsen andere Industriezweige, wie z.B. die Metallindustrie, Werften, Elektronik. Das geschieht mit Hilfe von Fremdkapital, durch den Anschluß an multinationale Firmen.
Aus dieser Umstrukturierung der Wirtschaft folgt eine tiefgreifende Veränderung der Zusammensetzung der Arbeiterklasse. 1969-70 treten die Frauen, die vordem vor allem in der Nahrungsmittelbranche und im Textilbereich gearbeitet hatten, massenweise in die moderne Industrie ein. Der Unterschied zwischen qualifizierten und nicht-qualifizierten Arbeitern wächst. In der Massenproduktion gewinnen nichtqualifizierte Arbeiter, Jugendliche und Frauen an Bedeutung.
Die Emigration verändert völlig die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Der technologische Aufschwung der 60er Jahre reicht nicht aus, die fehlenden Arbeitskräfte zu ersetzen. Im Jahre 67-68 kommt es dann zur Rezession. Die Investitionen, die Produktion stagnieren. Den Arbeitern wird keinerlei Lohnerhöhung zugestanden. Im ganzen Land brechen Streiks aus, Bummelstreiks, versteckte Streiks, Sektorenstreiks. Das Land steckt in der Krise.
Salazar erkrankt und muß seine Macht abgegeben. Unter Marcello Caetano versucht die Regierung einen Liberalisierungsprozeß einzuleiten, d.h., ein Minimum von Mechanismen einzurichten, die den Arbeitskonflikt institutionalisieren. Für diese Liberalisierung sorgt eine Reihe von Technokraten in der Regierung. Für sie steht fest, daß der Kolonialkrieg mehr und mehr den Interessen der rückständigsten Fraktionen der Nationalökonomie dient, daß nur ein kapitalistisches Liberalisierungsprogramm die portugiesische Wirtschaft abkurbeln und den Arbeitskonflikt eindämmen kann. Denn nun beginnt sich die Arbeiterschaft autonom zu organisieren und wird nicht mehr von der bisherigen antikapitalistischen Bewegung kontrolliert.
Der Regierungsplan schlägt fehl. Warum? Einmal zeigte das Jahr 67 und seine Folgen ganz allgemein das Ende des gewissermassen mechanisch funktionierenden Kapitalismus an. In diesem Rezessionsklima konnte das portugiesische Kapital nicht hoffen,
a) eine genügende große Profitspanne zu erreichen, um die Arbeiterforderungen auch nur teilweise befriedigen zu können,
b) durch Investitionen einen qualitativen Sprung auf dem internationalen Markt zu schaffen oder doch wenigstens die Stellung zu halten,
c) die Kriegskosten ohne eigenen Verzicht zahlen zu können.
In dieser ausgweglosen Situation politisiert sich der Lohnkonflikt. Wie in Italien und anderen Ländern des fortgeschrittenen Kapitalismus ist jede Politik auch Wirtschaftspolitik. Und wenn die Wirtschaft angegriffen ist, wird deshalb von den Arbeitern sogleich die Politik in Frage gestellt. In Portugal wie in anderen Ländern entwickelt sich eine neue, eine Klassenbewegung.
Hinzu kommt eine Verschärfung der Repression. Das Caetano-Regime begreift rasch, daß es sich nicht leisten kann, den Hahn ein wenig aufzudrehen, ohne gleich eine völlige Überschwemmung fürchten zu müssen. Deshalb zieht es rasch vor, den Hahn wieder ganz zuzudrehen. Die Repression wird so grausam wie nie zuvor. Die Kommunistische Partei bleibt passiv. Dabei verliert sie rasch an Einfluß und muß später selbst terroristische Aktionen decken, um nicht völlig an Prestige zu verlieren. Entscheidend werden nun die Aktionen der progressiven Katholiken und der Marxisten-Leninisten gegen den Kolonialkrieg. Sie wagen in dieser Situation der Repression, zu Demonstrationen aufzurufen, – mit der Gewißheit, dafür im Gefängnis büßen zu müssen. Aber sie gewinnen bei der Bevölkerung an Prestige, – und der Kolonialkrieg wird zum politischen Schandfleck Nummer eins.
Caetanto war in eine Falle gegangen. Er wollte aus kapitalistischen Interessen eine Liberalisierung. Aber damit wurde auch zugleich der Kolonialkrieg in Frage gestellt. Es ist nicht möglich, bürgerliche Freiheiten zu gewähren, Gewerkschaften zuzulassen und Universitäten zu modernisieren, ohne gleichzeitig die Pressezensur aufzuheben, Versammlungen zu erlauben etc.
In den Jahren 1968 bis 70 war die Universität gewissermaßen ein befreites Gebiet. Die anti-autoritäre Bewegung hatte auch auf Portugal übergegriffen, – und dort so an Bedeutung gewonnen, daß 1969 alle Studenten Lissabons sich weigerten, Examen abzulegen. Die französischen Situationisten hatten sehr großen Einfluß. Ein Universitätsblatt nannte sich „Gegen die Arbeit“, während zur gleichen Zeit in anderen Ländern, wie z.B. in Frankreich von der Universitätslinken die Arbeit wieder soweit glorifiziert wurde, daß Studenten in die Fabriken gingen.
1970 kann man auch eine allgemeine Sprachveränderung feststellen. In Schulen, Universitäten und auch in Fabriken werden Wörter wie „Ausbeutung“, „Kapitalismus“, „Klassenkampf“ gebräuchlich. Selbstverständlich lag es im Interesse Caetanos und seiner Technokraten, die Universität zu liberalisieren. Die veraltete Universität Salazars produzierte nur autoritäre Kader, die den Ansprüchen der Wirtschaft und Industrie keineswegs gewachsen waren. Der damalige Bildungsminister stellt deshalb ein kapitalistisches Reformprogramm der Universitäten auf, das jedoch wegen des massiven Widerstands der Studenten nie realisiert werden konnte. Monatelang blieben die Universitäten geschlossen.
Hinter dem Immobilismus des Salazarregimes machten sich schon alle Grundwidersprüche des Kapitalismus bemerkbar. Der Versuch, nun das Regimes von oben her zu liberalisieren, mußte fehlschlagen. Nicht, weil, wie die Kommunistische Partei behauptet, der Kapitalismus von Natur aus unfähig ist, sondern, weil die kapitalistische internationale Konjunktur und die nationale Konjunktur Reformen nicht zulassen. Außerdem lässt sich die portugiesische Arbeiterklasse auf die vorgeschlagene Konfliktinstitutionalisierung nicht ein.
[…]
Die Offiziere sind kriegsmüde, und die Befreiungsbewegung in den Kolonien hat sie vor Probleme gestellt, die sie nicht lösen können. Im eigenen Lande sind sie politisch völlig isoliert. Sie haben alle unangenehmen Seiten der portugiesischen Entwicklung abgekriegt. Vor Jahren noch konnte sich ein Offizier, wenn er aus Afrika heimkehrte, ein Haus auf portugiesischem Boden leisten. Durch die Spekulation ist das jetzt unmöglich geworden. Die materielle Entschädigung für einen fragwürdig gewordenen Krieg ist zu gering. Auch an Ruhm trägt der Kolonialkrieg nichts mehr ein. Die portugiesische Bevölkerung ist anti-kolonialistisch. Kein Offizier wagt sich mehr in Uniform auf die Straße, ohne von seinen Mitmenschen als Faschist oder Kolonialist beschimpft zu werden. Deshalb beginnen die Offiziere zu meutern und fordern zunächst eine Lohnerhöhung, – wie die Arbeiter und Angestellten. Und wie die Arbeiter und Angestellten werfen sie mit dieser materiellen Forderung gleichzeitig politische Probleme auf.
Als die Regierung schließlich bereit ist, ihren Forderungen nachzukommen, ist es bereits zu spät. Die Bewegung hat ihre eigene Dynamik entwickelt. Der Kolonialkrieg ist in Frage gestellt.
Auf dieser Basis verbindet sich die anti-faschistische Bewegung mit den Parteien und Organisationen der traditionellen Opposition, – nicht mit der Arbeiterbewegung. Auf der anderen Seite verbünden sich Spinola und die liberalen Abgeordneten, die für einen modernen nationalen und internationalen Kapitalismus eintreten.
Der 25. April ist zwar weder von dieser modernistischen Fraktion befohlen, inszeniert oder bezahlt, doch der 25. April konnte nur erfolgreich enden dank dieser modernistischen Fraktion. Die Übergabe der Macht – und es handelt sich um eine friedliche Übergabe – aus den Händen Caetanos in die Hände Spinolas konnte nur deshalb geduldet werden, weil Spinola für das Großkapital eine Garantie darstellt. Das Großkapital hätte nie die Macht in den Händen von einer Anzahl unkontrollierbarer Offiziere gelassen. Spinola hingegen ist ein Mann, der mit dem alten Regime total kompromitiert ist. Ein Nazi, der in der blauen Division Spaniens auf Seiten Hitlers gekämpft hat. Es ist eher anzunehmen, daß sein 1972 veröffentlichtes Buch „Portugal o Futoro“ ihm von ausländischen Mächten diktiert wurde, als es für ein Zeichen von Gesinnungsveränderung hinzunehmen. Spinoal war der Mann, der mit einem Umsturz erreichen konnte, was der Regierung Caetanos 1969-70 mit Reformplänen nicht gelang, was das Kapital aber forderte.
[…]
Anfang 1974 befindet sich Portugal in einem chaotischen Zustand. Der Schwarzmarkt blüht, jeder rettet sich, wie er kann. Das Land ist in einem Kriegszustand. Man kann sagen, daß letzten Endes der Kolonialkrieg die Metropole erreicht hat. Und in der Metropole Lissabon haben die Befreiunsgbewegungen der Kolonialländer ihren Krieg gewonnen.
Das Caetano-Regime wollte eine Liberalisierung und einen modernen Staat. Der moderne Staat aber muß ein bestimmtes Gesellschaftskapital sicherstellen: Straßenbau, Gesundheitswesen, Wohnungen, Eisenbahnen sind ein Minimum. Der portugiesische Staat war dazu unfähig. Der Krieg fraß alles Nationalkapital auf.
Um einen kapitalistischen Sprung zu schaffen, muß also Spinola mit dem Kolonialkrieg ein Ende machen. Andererseits muß er eine Politik führen, die die Amerikaner nicht verschreckt, die Angola auf keinen Fall verlieren wollen. Und im Landesinneren hat er es mit einer Arbeiterklasse zu tun, die sich nicht mehr hundertprozentig von der Kommunistischen Partei kontrollieren läßt. Eine erste Streikwelle zwischen dem 1. Mai und der Bildung der provisorischen Regierung erreicht etwa 7000 Betriebe und gibt ein Beispiel für die Spontaneität und Autonomie der portugiesischen Arbeiterklasse. Lohnforderungen und qualitative Forderungen werden gestellt, aber vor allem werden die Streikmotive von 1973 und den ersten Monaten von 1974 wiederaufgegriffen, so als sei inzwischen nichts geschehen oder als habe die Geschichte der Arbeiterklasse eine andere Kontinuität als die Geschichte der Machthaber. In einer Fabrik in Porto verlangen die streikenden Arbeiter in den ersten Maitagen die Bezahlung der Streiktage vom März. Nach den roten Nelken vom 1. Mai und der gefeierten Heimkehr von Sozialistenführer Soares und Kommunistenführer Cunjal ist Streik nun zur Parole geworden. Die Welt der Arbeit wird nun zum ersten Prüfstein der neuen Machthaber. Die Junta und die Offiziersbewegung sind gezwungen zu respektieren, was die vereint: Deshalb werden Delegierte ernannt, die den Konflikt zwischen Arbeiter und Unternehmern beschwichtigen sollen. Sie werden in die Fabriken entsandt, um Verhandlungen in Gang zu setzen. Fast überall fordern die Arbeiter den Rücktritt der Direktoren und Lohnerhöhungen von 6000 Escudos. Die Junta-Gesandten stehen vor der unmöglich Mission, zu vereinen was unvereinbar ist: die Arbeiter mit den Unternehmern.
Ihre einzige Chance, die Brandleger von gestern sind die Brandlöscher von heute: Diese Streikwelle berechtigt und erzwingt den Eintritt der Kommunistischen Partei in die Regierung. Sie bekommt zwei Ministerposten: Das Arbeits- und das Auswandersungsministerium. Von dem Augenblick an kontrolliert die Kommunistische Partei die Basis. Überall wo sie kann, unterdrückt sie spontane Streiks. Ihre Parole: um die nationale Wirtschaft zu retten, keine Unruhe. Die zweite Streikwelle im Juni umfasst nur 500 Betriebe.
An vielen Orten aber behauptet sich die Arbeiterautonomie trotz der Befriedungsmanöver der KP, – so bei den Schreibmaschinenwerken MESSA, in der Uhrenfabrik Timex, in mehreren Textilfabriken, bei den Fischern und den Abgestellten des öffentlichen Dienstes.
Die Absicht der Kommunistischen Partei läßt sich leicht aufdecken. Sie will in der Zeit, in der sie an der Macht teilhat, ihre Organisation zu einer großen politischen Partei ausbauen. Unter dem Faschismus genoß sie zwar ein enormes Prestige, doch fehlte es an einer wirklichen Verankerung, wie die erste Streikwelle kurz nach der Befreiung zeigte. Nach dem ersten Mao hat sie 100 000 neue Mitglieder geworben.
Die Sozialistische Partei hingegen versucht ihre Existenz mit ihrer Teilnahme an der Regierung zu rechtfertigen. Sie gibt vor, links von der Kommunistischen Partei zu stehen, verfügt aber über keinerlei Basis, es sei denn in Intellektuellenkreisen.
Die PPD, eine demokratische Volkspartei und dritte Komponente in der provisorischen Regierung, ist schlicht eine Unternehmerpartei.
In zweimonatiger Zusammenarbeit in der Regierung haben sich die Parteien gegenseitig völlig neutralisiert und waren noch nicht einmal in der Lage, das von der Offiziersbewegung vorgelegte Reformprogramm zu verwirklichen. Deshalb löste Spinola die Regierung Mitte Juli auf und gibt den jungen Offizieren ein größeres Gewicht.
Was die extreme Linke angeht, sei die maoistischer, trotzkistischer oder anarchosyndikalistischer Abstammung, so drückt sie zwar die Bedürfnisse der Arbeiter aus, ist aber nicht die Arbeiterbewegung. Sie spricht sich ideologisch für Arbeiterautonomie aus, hat aber keine organische Verbindung zur Arbeiterklasse.
Sie ist unfähig irgendwelche Impulse zu geben. Wie in anderen Ländern erfüllt sie die Aufgabe, in ihren Publikationen Verbindungen zwischen verschiedenen Produktionsbereichen herzustellen, Kontakte zu vermitteln und Informationen zu verbreiten. Auch wenn man alle linken Gruppen zusammennimmt, geben sie nicht den Kern einer revolutionären Partei ab.
[…]
Die Offiziersbewegung hat am 25. April ganz eindeutig eine ausweglose Situation deblockiert. Die wesentlichen Konflikte aber bleiben, da sie Klassenkonflikte sind. Die Offiziersbewegung als kleinbürgerliche Bewegung, mit unterschiedlichen ideologischen Tendenzen, hat mit dem Putsch ihre eigenen Interessen verteidigt. Die Interessen der Arbeiter kann sie nicht verteidigen. Es ist vielmehr die Arbeiterklasse selbst, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von der fortschrittlichen Fraktion der Offiziere ein Bündnis fordern wird. Diese Fraktion hat begriffen, daß der Kapitalismus ihr nichts mehr zu bieten hat, und wird deshalb eine Arbeiteralternative unterstützen.
Entscheidend bleibt die Freiheit an der Basis. Die Offiziersbewegung kann nicht vorgeben, für die Arbeiter eine sozialistische oder kommunistische Alternative darzustellen. Andererseits kann sie nicht fortfahren, die Demokratie hochzuhalten, und dabei gleichzeitig Leute manipulieren. Denn sie manipuliert die öffentliche Meinung, indem sie alle Entscheidungen in geheimer Versammlung trifft und die ökonomischen Probleme nicht offen ausspricht, kurz, nicht mit dem Volk; ohne Volk will sie dem portugiesischen Volk helfen.
Manipuliert werden auch die Soldaten, die Basis der Armee, die gestern noch eingesetzt wurden, um faschistische Agenten festzunehmen, und drei Monate später auf linke anti-kolonialistische Demonstranten schießen zu müssen. Für die Demokratie ist das ein recht sandiger Boden. Auch wenn die Offiziere morgen linke Initiativen ergreifen würden, so wären sie von der Masse des Volkes völlig isoliert und riskieren dazu einen Unternehmerstreik, eine Investitionsblockierung, was Arbeitslosigkeit zur Folge hätte. Die Arbeiter zögen dann „vernünftige Unternehmer“ noch diesen „idealistischen Draufgängern“ vor.
Mit dem 25. April hat die Offiziersbewegung ihre Aufgabe erfüllt. Nun ist die Reihe an den Arbeitern, mit denen die Offiziere sich verbünden können. Andererseits können sie in der Armee für eine Demokratisierung sorgen. Es kann keine klassenunabhängige Offiziersbewegung geben. Und wenn sie es gibt, so wie der Befreiungsrausch am 25. April glauben machen könnte, dann dauert die Zeit von Nelkenblüten.


3. WDR Videoclip (1. Mai und PIDE Knast)


4. Tony Cliff: „Portugal vor der Entscheidung“

Tony Cliff: Portugal vor der Entscheidung. Frankfurt a.M. 1975.

aus II. Kapitel „Die Massen betreten die Arena. Die Offensive“

Nach dem 25. Apri1 1974 war es die unmittelbare Aufgabe, sich von den Jahren der faschistischen Repression zu erholen und die Arbeiter zu vereinigen, die durch eine Unmenge von Gewerkschaften innerhalb der einzelnen Fabriken und eine Unmenge von Fabriken und Produktionseinheiten in der gesamten Industrie zersplittert waren. Die portugiesische Arbeiterklasse nahm die Aufgabe der Vereinigung in ihre eigenen Hände; in ganz Portugal wurden in den Fabriken Arbeiterkommissionen (CT) gewählt, um die Basiskämpfe anzuleiten, und zwar nicht nur auf lokaler Ebene, sondern auch für ganze Industriezweige und innerhalb ganzer Monopole.
In der Elektroindustrie ist ein Zusammenschluß gebildet worden, der Arbeiterdelegierte aller Elektrofirmen – Plessey, STC, ITT, etc. – umfaßt. Viele Fabriken und Teile der Arbeiterschaft stellen regelmäßig Zeitungen und Bulletins für die (37) Basis her. In einigen Fällen, wie zum Beispiel in der Woll- und Textilindustrie, den Docks und der Stahlindustrie werden für die Arbeiter ganzer Industriezweige Zeitungen herausgegeben. Die Basisorganisationen sind keine Alternativgewerkschaften, sondern werden von Delegierten gebildet, die in den Fabriken von der Gewerkschaftsbasis gewählt werden, sie sollen eine Initiative, demokratische Führung innerhalb der Fabrik sein. Die Fabrikkommissionen koordinieren die Tageskämpfe, und alle politischen Entscheidungen werden auf Massenversammlungen getroffen. Verhandlungen mit dem Management werden der Basis berichtet. Von Anfang an sind in den Arbeiterkommissionen (CT) politische und ökonomische Forderungen eng miteinander verbunden gewesen. „Saneamento“ (Säuberung) bedeutete weit mehr, als einfach die Geheimpolizisten hinter Schloß und Riegel zu bringen. Wirkungsvoll und vollständig durchgeführt, heißt es im Grunde genommen, die Struktur des bürgerlichen Staates zerstören. Weil die alte Staatshierarchie die Kontrolle über jede Ebene des gesellschaftlichen Lebens, der Banken, Kirchen, Schulen, Universitäten, über das Büro und Fabrikmanagement bedeutete, würde eine vollständige „Saneamento“ die Zerstörung der gesamten gesellschaftlichen Hierarchie von den Aufsichtsräten bis hinunter zu den Meistem bedeuten. In den großen [Kapital-] Gesellschaften, besonders in den multinationalen, gingen die ökonomischen Forderungen Hand in Hand mit den Kämpfen um die [Hinaus-]Säuberung aller Mitglieder des Managements oder der Verwaltung, die in irgendeiner Art und Weise mit dem faschistischen Regime verbunden waren. „In einigen Fällen bedeutete dies die Entlassung aller.“ (Antonio Martins dos Santos, Funktionär der Lissaboner Metallgewerk-schaft, interviewt in „Socialist Worker“ vom 27.Juli). Allein im Mai 1974 befanden sich über 200.000 Arbeiter aus den Schlüsselsektoren der Textilindustrie, des Schiffbaus, des Verkehrswesens, des Hotelgewerbes und der Lebensmittelversorgung, der Elektroindustrie, der Post und der Banken im Streik für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen wie für „Saneamento„. Im LISNAVE-Werk streikten 8.400 Arbeiter und besetzten die (38) Werften von Margoeira und Rocha do Conde de Orbidos. Die Hauptforderungen waren ein Mindestlohn von 750, — DM im Monat und die 40-Stunden-Woche. In der Textilindustrie beschlossen etwa 6.000 Arbeiter der Lanificios von Corvitha, Tordozendo und Unhais de Sarra am 12. Mai in den Streik zu treten, um ihrer Forderung nach 70 DM mehr im Monat Nachdruck zu verleihen. Der Streik breitete sich auf mehrere Fabriken in Porto, Castanheira de Pera, Castelo Branco, Cebolais de Limar, Lissabon, Portalegre, Mira d’Aire und Arelar aus. Am 13. Mai begannen etwa 1.600 Bergarbeiter in Panasqueira einen Streik. Die Forderungen waren ein Mindestlohn von wenigstens 550 DM, ein jährlicher Bonus in Höhe eines Monatslohns, kostenlose medizinische Versorgung, Entlassung aller mit dem faschistischen Regime verbundenen Personen und 1 Monat Urlaub. Der Streik endete am 20.Mai damit, daß alle Arbeiterforderungen erfüllt wurden. Die Arbeiter von Firestone in Lissabon, Alcochete Porto und Coimbra traten am 13.Mai in den Streik und besetzten die Fabriken. Sie verlangten die Säuberung der Verwaltung von Elementen, die mit dem faschistischen Regime verbunden waren. Am 20.Mai nahmen sie die Arbeit wieder auf.
Gegen Ende Juni waren bedeutsame Fortschritte erzielt worden. Saneamento, obwohl in keiner Weise vollständig, hatte zum Resultat, daß die am meisten kompromittierten und bekanntesten rechten Leute aus den Ämtern, Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen, lokalen Regierungsstrukturen, Kirchen und Fabriken in ganz Portugal entfernt waren. Die konsequentesten und weitestreichenden Säuberungen wurden in denjenigen Fabriken vorgenommen, wo die Unterdrückung, die der Streikwelle vor dem Putsch gefolgt war, noch in frischer Erinnerung der Arbeiterklasse war. Für die multinationalen Konzerne bedeutete das Gesetz über die Einführung eines nationalen Mindestlohns durch die Regierung im Juni – und die Radikalität, mit der die Arbeiterklasse für seine Durchsetzung kämpfte und mit der die Basisorganisationen sich entwickelten – das Ende der Ära der Überausbeutung billiger und unterdrückter Arbeitskräfte. Gesellschaften wie Plessey, Timex und ITT begannen ihr Kapital ins Heimatland zurück zu schicken, versuchten Teile ihrer Niederlassungen stillzulegen und sich zurückzuziehen. Viele der kleinen und mittleren Unternehmen gingen bankrott und schlossen oder wurden von ihren Eignern im Stich gelassen.
Der Kampf gegen die Entlassungen begann im Juli 1974. Im September ’75 gab es allein im industriellen Sektor 300.000 Arbeitslose. Die harten Bedingungen des portugiesischen Kapitalismus zwingen die Arbeiterklasse, sich weiterhin zu verteidigen. Viele Fabriken sind von den Arbeitern und Arbeiterkommissionen (CT) übernommen worden, die kurz nach dem 25 April 1974 gewählt wurden; sie haben die Produktion wieder aufgenommen. Aber die Kapitalisten gaben nicht kampflos auf. Sie versuchten, das Streikgesetz gegen die Arbeiter anzuwenden. In Charminha, einer kleinen Kleiderfabrik außerhalb Lissabons, versuchten sie, die Gehälter mit geplatzten Schecks zu bezahlen. Der österreichische Manager floh ins Ausland; die Arbeiter, vorwiegend Frauen, gründeten eine Kooperative, um ihre Produkte zu verkaufen. In Eurofil, einer Firma, die Plastik, Fasern, Seile und Sacktuche herstellte und die zu 40% ungelernte Arbeiter beschäftigte, versuchte das Management die Gesellschaft in den Bankrott zu steuern. Die Arbeiter besetzten die Fabrik und produzierten weiter. Sie haben die Bosse ausgeschlossen und fordern die Verstaatlichung ohne Entschädigung, unter der Kontrolle der Arbeiter. In Tintura Portugalia, dem größten Farbenkonzern in Portugal, beantworteten die Bosse die Liste von Arbeiterforderungen mit einer Liste von Entlassungen und einer Aussperrung. Die Arbeiter besetzten die Fabrik und begannen ein „work-in“, Die Unternehmer, die geltend machten, daß das Unternehmen einer kritischen finanziellen Situation gegenüberstand, initiierten nichtsdestoweniger eine äußerst teure Verleumdungs- und Lügenkampagne gegen die Arbeiter in der nationalen Presse und im Rundfunk. Ihre Pläne wurden durch die Arbeiter der Rundfunkstation durchkreuzt, die diese Kampagne boykottierten und stattdessen die Arbeiterversion des Kampfes sendeten.
Eine neue Welle harter Kämpfe gegen Entlassungen überschwemmte Portugal seit Januar 1975. In den ersten sechs Wochen dieses Jahres gab es mehr als 250 Kämpfe um diese Frage. Streiks stellen nicht länger die Haupttaktik der Kämpfe dar. Stattdessen ist eine immer größer werdende Zahl von Fabriken besetzt worden. Einige, wie die Nutripol-Supermarktkette, laufen unter Arbeiterkontrolle; und in einer Reihe von Fällen haben die Arbeiter die Verstaatlichung gefordert. So in der CUF, einem ausgedehnten Mischkonzern, der jetzt verstaatlicht worden ist; und in der Nefil-Möbelfabrik, wo ein Sprecher der Arbeiterkommission die Taktik wie folgt erklärt: „Wir hegen keinerlei Illusionen über eine Arbeiterselbstverwaltung im Kapitalismus. Wir benutzen sie als eine Waffe, als eine Notlösung. Wir begannen, die Fabrik zu verwalten, weil wir es tun mußten, um zu überleben, nachdem das Management die Fabrik am 27. Dezember im Stich gelassen hat. Wir denken, daß die Regierung die Firma verstaatlichen soll – unter Arbeiterkontrolle. Wir wollen keine falsche Nationalisierung, die nur den Bossen hilft.


ÜBERLEITUNG

Wie reagieren nun also die Bourgeoisie und die Grundbesitzerklasse politisch und militärisch auf diese Explosion der proletarischen Kämpfe seit 1974 ? Wie sie ökonomisch reagieren, wurde soeben bei Tony Cliff schon angedeutet. Wobei sich 1974 auch bereits eine Bewegung der Landarbeiter_innen ankündigt, die es hier und da wagt, zur Besetzung von brachliegenden Ländereien, leerstehenden Gütern und von Latifundien überzugehen – eine Bewegung, die erst 1 Jahr später ihre volle Dynamik bekommt, nachdem sie bis ins Jahr 1975 von der inzwischen hektisch aufgebauten Gewerkschaftsbürokratie gebremst werden und von den sogenannten „progressiven Militärs“ zunächst zurückgehalten werden kann. Gegen diesen Stau von Klassenkämpfen und Aneignungsnotwendigkeiten – der sich auch in einer Welle von Häuserbesetzungen in Stadt und Land gleich ab April/Mai 1974 zu lösen begonnen hat und zusammengenommen das bürgerliche, private Klasseneigentum an den gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmitteln radikal in Frage stellt, — gegen diese revolutionäre Herausforderung antwortet die Reaktion zunächst mit 2 erneuten Putschversuchen:
Der erste konterrevolutionäre Vorstoß kam ab Juli und scheiterte am 28. September 1974,
der zweite und vorerst letzte wurde unternommen am 11.März 1975.
Beide Putschversuche wurden noch einmal von dem Reformfaschisten Spínola geleitet, und beide wurden jedesmal von der in Panik geratenen Gesamtbourgeoisie eingefädelt und gedeckt sowie von den regierenden Linksparteien der provisorischen Regierung um die „progressive“ Militärjunta nicht rechtzeitig in der Öffentlichkeit denunziert bzw. abgeblockt. Sondern jedesmal hat buchstäblich erst am Tage des Putschversuches selbst die Arbeiterklasse direkt in eindrucksvoller autonomer Handlungsfähigkeit von der „Straße“ und den Betrieben aus die Situation erkannt und gewendet, den Putsch blitzschnell öffentlich gemacht und durchkreuzt. Wie das im einzelnen verlaufen ist, kann sich wer will als firsthand-Report des WDR aus dem Jahr 1975 genau „vor laufender Kamera“ anschauen.
[Die Film-Doku von Malte Rauch und Samuel Schirmbeck lief im Spätsommer 1975 an: „Viva Portugal“. Im Herbst 1975 unter diesem Titel auch als Buch im VerlagNeueKritik.]
So spannend die Einzelheiten der Putschvereitelung durch das direkte, offene, spontane und total demokratisch-autonom koordinierte Zusammenwirken der revolutionären Menschenmassen sind, dieses hier auch nur zu skizzieren würde, so aufregend es ist, doch in seinen komplizierten Abläufen ermüden. Uns sollen hier allererst nur die Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Revolution und auf sozusagen den Aggregatzustand des Proletariats interessieren, und dazu lassen wir jetzt zusammenfassend einen der anspruchsvollsten, extremistischsten & kritischsten von den „teilnehmenden Berobachtern“ sprechen: den Situationisten Jaime Semprun. Er trifft seine Einschätzung der erstarkenden Autonomie des Proletariats in der Situation zwischen den beiden Rechtsputschversuchen (September 1974 und März ’75) und zwar aus der Perspektive unmittelbar nach dem April 1975, nachdem die versprochenen Parlamentswahlen stattgefunden haben.
Ein Jahr nach dem Beginn der Revolution, als die beiden Putschanläufe gescheitert sind und bei den Parlamentswahlen die stalinistische PCP überraschend für sie und die bürgerlichen Beobachter so wenig Wählerstimmen erhält, dass sie die Regierung verlassen muss und schwerlich als Gefahr einer „kommunistischen Machtergreifung“ wie bisher an die Wand gemalt werden kann, und während demgegenüber die Radikalisierung in Proletariat und Landarmut erst recht an Boden gewinnt und in den „heissen Sommer“ 1975 übergeht, – in diesem immer turbulenteren Jahr der Klassenkämpfe ziehen sich die Kapitalisten ganz ostentativ aus der portugiesischen Wirtschaft zurück und verlassen ebenso ostentativ zunehmend ihre Villen und Landgüter. Damit einhergehend wird das Bild des „Chaos“, des ökonomischen Zusammenbruchs schlechthin in der Weltöffentlichkeit gezeichnet – wie es dem bürgerlichen Weltbild ohnehin entspricht, demzufolge es ohne Kapitalisten auch keine Produktion geben kann. In dieses zunehmende ökonomische „Vakuum“ tritt nun – soweit die Betriebe eben nicht von den Produzierenden gleich selbst übernommen werden – ebenso automatisch die bourgeoissozialistische, d.h. staatssozialistische Übernahme der Banken, Versicherungen und anderer ökonomischer Schlüsselbereiche durch den Staat, den ideellen Gesamtkapitalisten, der somit als realer auftritt, was wiederum von den schmollenden Kapitalisten als Übergang in „den Sozialismus“ denunziert wird. Demgegenüber stellt der Situationist Jaime Semprun zunächst die Feststellung der wirklich entstehenden Produktionsverhältnisse vom Kopf auf die Füße:


5. Jorge Semprun: „Der soziale Krieg in Portugal“

Jaime Semprun: Der soziale Krieg in Portugal. Hamburg 1975.

Es soll hier genügen darauf hinzuweisen, daß ein großer Teil Portugals dank der Fähigkeit zur Selbstorganisation der Arbeiter lebt und nur dank derjenigen der Soldaten überlebt. Und wenn ein Land nicht mehr gegen die Arbeiter regiert werden kann, kann es bald nur noch von ihnen regiert werden – oder in ihrem Namen. Aber dafür, daß die Repräsentation an die Stelle der Klasse tritt, bedarf es – bei der Geschwindigkeit, mit der sich die Dinge entwickeln oder vielmehr das, was sie zum Tanzen zwingt -, der offenen Repression.
Die Klasse, die in sich die revolutionären Interessen der Gesellschaft konzentriert, findet unmittelbar in ihrer eigenen Lage den Inhalt und die Materie ihrer revolutionären Aktivität: die Bekämpfung ihrer Feinde, die von den Erfordernissen des Kampfes bestimmten Entscheidungen; und die Konsequenzen aus ihren Handlungen drängen sie dazu, weiter zu gehen. Sie unternimmt keinerlei theoretische Untersuchung ihres eigenen Zwecks. Das Bedürfnis der Wahrheit, das ihre erste praktische Forderung ist, bringt sie direkt dahin, daß sie die Wahrheit ihrer Bedürfnisse kennt; das Bewußtsein der Notwendigkeit, das die Ökonomie in ihren Dienst stellen muß, gegen das stalinistische falsche Bewußtsein, das sie in den Dienst der Ökonomie stellen will. Nach dem ‚Arbeitssonntag’ für die „Volkswirtschaft’ schrieben Arbeiter der TAP [portugiesische Flugfahrtgesellschaft] am 27. Oktober [1974]: ‚Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten derjenigen, die ausbeuten, interessieren die Arbeiter nicht. Wenn die kapitalistische Wirtschaft die Forderungen der Arbeiter nicht verkraften kann, ist das nur noch ein Grund, um für eine neue Gesellschaft zu kämpfen, in der wir selbst die Entscheidungsmacht über die gesamte Wirtschaft und das soziale Leben haben können.’
Vom Januar [1975] an beschleunigt sich die Bildung wirklicher Lager im Klassenkrieg. Die MFA bringt ein Gesetz ein, das die stalinistische Intersyndikal zur Einheitsgewerkschaft macht und das von der Regierung trotz der Opposition der Sozialisten angenommen wird. Jene müssen, wie jedesmal vorher und danach, ihr Programm demokratischer Normalisierung zurücksetzen und murrend auf dem Weg zur Bürokratisierung folgen …
Die Bewegung der Arbeiter hingegen, die bereits durch Tausende einzelner Vergehen hindurch spontan auf die Aufhebung der Ökonomie abzielte, gab sich seit Januar, mit den Mitteln ihrer praktischen Vereinigung, die Möglichkeit, ihre vereinte kritische Wahrheit zu kennen und sie offen gegen alle immer noch strittigen staatlichen Lösungen zu proklamieren. Wenn die Subversion, die alle Sektoren der portugiesischen Gesellschaft erschüttert hat, sie auch erst als getrennte Sektoren erschüttert hat, dann deshalb, weil das Proletariat, hier wie überall, seine autonome Kommunikation aus dem Nichts schaffen mußte, um total den Boden der Totalität zu benutzen, den es bereits zum Schlachtfeld bestimmt hat. Aber dadurch, daß ihm das gelang, bewies es, daß seine Zeit seit dem 28. September [das war der letzte, vereitelte Putschversuch des Reformnazis Spínola gewesen] nicht verloren war. Indem das Proletariat jetzt unter seinen eigenen Farben und nicht zur Verteidigung der Linken in Erscheinung trat, richtete es an alle Mächte der Welt die schärfste Warnung, die sie seit dem Wilden Generalstreik [in Frankreich] vom Mai 1968 bekommen haben.
Am 7. Februar 1975 demonstrierten aufgrund des Aufrufs eines Komitees von Delegierten aus 38 großen Unternehmen, eines Komitees, das aus den gegen die Repression bei der TAP hergestellten Verbindungen entstanden war, über 50 000 Arbeiter und Arbeitslose in den Straßen von Lissabon. Ihre Methoden zeigen klar, daß hier die Ordnung der Arbeiterautonomie auf dem Vormarsch ist, um die bürokratische und militärische Ordnung herauszufordern: Die Demonstration verläuft schweigend, die Spruchbänder enthalten nur die von dem Verteidigungs[=Vereinigungs?]komitee der Betriebe beschlossenen Parolen, die Selbstverteidigung der Demonstration ist bestens organisiert. Und die Linksradikalen, die natürlich herbeigeeilt waren im Glauben, disponible Arbeiter für sich einspannen zu können, wurden auf den ihnen angemessenen Platz verwiesen: an den Schluß des Zuges, außerhalb des Ordnungsdienstes.
Indem sie gegen die Arbeitslosigkeit und gegen die Anwesenheit von NATO-Truppen in Portugal demonstrierten, und vor allem, indem sie sich offen über die PCP und die Intersyndikal und damit zugleich über die Regierung hinwegsetzten, die für die Zeit der NATO-Manöver jede Demonstration verboten hatte, schrien die Arbeiter unmittelbar und auf brutale, unüberhörbare, gewalttätige und ganz entschiedene Weise ihre Opposition gegen die bestehende Gesellschaft heraus. Ihre Offensive fing da an, wo die Arbeitskämpfe in Europa bisher aufgehört haben: bei dem Bewußtsein dessen, was das Wesen des Proletariats ist, sobald es sich als die Klasse wiederentdeckt, die totaler Feind jeder verselbständigten Repräsentation ist und jeder Spezialisierung der Macht. Die Organisation selbst der Demonstration besaß diesen überlegenen Charakter: während sich alle anderen Bewegungen zunächst gegen die Unternehmer, den sichtbaren Feind, gerichtet hatten, wendete sich diese Bewegung auch sofort und ausdrücklich gegen den Bürokraten, den verborgenen Feind. Die Kommunistische Partei [PCP] wurde beschuldigt, die Intersyndikal zu unterwandern, um ihre Kontrolle über die Arbeiterklasse auszudehnen’. Das Gesetz über die Gewerkschaftsvereinigungen wurde von Rednern als ‚den Interessen der Arbeiter entgegengesetzt’ bezeichnet. Da die Delegierten in den Betrieben nicht gewählt, sondern von der Gewerkschaftsführung ernannt werden, handelten sie – so hieß es – als Agenten einer ‚bürokratischen Struktur, welche die Interessen der Bourgeoisie verteidigt’.
Armeeangehörige, die das Gebäude des Arbeitsministeriums bewachten, beteiligten sich an der Demonstration. Mit erhobener Faust schrien sie zusammen mit den Demonstranten: ‚Raus aus der NATO! Es lebe die Arbeiterklasse!’ und: ‚Soldaten und Matrosen werden auch ausgebeutet’ [Bericht in LeMonde vom 9./10. Februar 1975]. (…)
Wenn der Tag des 7.Februar genau das Richtige war, um die naiven Bewunderer der neuen portugiesischen Macht zur Verzweiflung zu bringen, dann auch deshalb, weil er nachdrücklicher als jemals zuvor, nach den Mafra-Unruhen vom Dezember, zeigte, daß die Basis der Armee nicht von der MFA kontrolliert wurde. Aus den Hubschraubern, die niedrig über die Menge hinwegflogen, grüßten die Soldaten die Demonstration mit erhobener Faust. Und noch mehr: als die Menge schließlich gegenüber dem Arbeitsministerium stand, das von den Soldaten des COPCON bewacht wurde, und sich in Richtung auf die Soldaten vorwärtsbewegte, drehten diese die Gewehrkolben nach oben und sich selbst in Richtung auf das Ministerium, mit erhobener Faust. Die Internationale, die daraufhin alle anstimmten, hat nicht zum letzten Mal die Führer der MFA wie die Strategen des Pentagon und des Kreml um ihren Schlaf gebracht. (…)
Man stelle sich nun diese unsägliche, geräuschvolle Konfusion von Institutionalisierung, Koalition, Konstitution, Wahlen, Provokation, Reaktion und Revolution vor, und man begreift, daß alle im Inneren und außerhalb des portugiesischen Staates vorhandenen nicht der bürokratischen Lösung zugetanen Anhänger der Ordnung in einem Wutanfall ausriefen: ‚Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!“ Spínola und die Rechte hörten diesen Ruf, aber glaubten die einzigen zu sein, die darauf antworten könnten, und daß von jetzt an die Partie gewonnen sei. Sie sahen nicht, daß es für ein bloßes Pronunciamiento [=Offiziersputsch] jetzt zu spät war (…) Die ausländische Hilfe, die sich Spínola zweifellos ausrechnete, vor allem nach dem internationalen Skandal als Folge der Unruhen in Porto und Setúbal, war von derselben Art [wie das bürgerkriegs-scheue Zögern der portugiesischen Bourgeoisie zu diesem Zeitpunkt]: [man war lediglich] bereit, ihn mit allen Mitteln nach seinem Sieg zu unterstützen. (Die USA landeten mit 6 000 Marinesoldaten in La Rota in Spanien – und nicht in Lissabon.)
Am Vorabend des 11. März [1975 dann – das war das Datum des zweiten konterrevolutionären Putschversuchs durch die Ultrareaktionäre um den Reformfaschisten Spínola –] hat die [Staats-] Macht an der Stärke der Arbeiter gesehen, daß sie nicht mehr in ihrer Ohnmacht [gegenüber der wachsenden Arbeiterautonomie] zwischen verfügbaren Repressionsmodellen wählen konnte. Es wäre unnütz, das völlige Durcheinander von Intrigen und Verschwörungen entwirren zu wollen, das damals die Macht kennzeichnete. Um den Coup vom 11. März zu verstehen, genügt es zu sehen, daß in diesem Moment keine der vorhandenen politischen Kräfte noch ein Interesse daran hatte, die Entscheidung zu verschieben; alle wollten sie schleunigst und endgültig. (…)
Das Scheitern des Putschversuches vom 11. März [1975] und sein Ergebnis, das sein wirklicher Sieg ist, waren die unvermeidlichen Folgen der gesamten vorausgegangenen Entwicklung. (…) Der bürokratisch-militärische Staat brauchte diese Wiederholung der Komödie vom 28. September [1974 – dem ersten gescheiterten Putschversuch des Generals Spínola] als Farce, um sich vollständig von seiner Vergangenheit zu lösen und aktiv zu werden (…)
Die Massen haben den 11. März [1975=Rechtsputschvereitelung] nicht gefeiert, wie sie den 25. April [1974=Linksputsch „Nelkenrevolution“] gefeiert hatten, und sie haben an ihm nicht teilgenommen wie am 28. September [1974=erste Rechtsputschvereitelung]. Sie haben vor der Kaserne des Ersten Leichtartillerieregiments, das von den [putschenden] Fallschirmjägern angegriffen wurde, nur eingegriffen, um die Provokation zu entschärfen und die ersten Schüsse zu verhindern, im Einverständnis mit den Soldaten der Kaserne, die trotz der psychologischen Vorbearbeitung durch ein dreistündiges Bombardement aus der Luft nicht die Nerven verloren. Indem sie den Fallschirmjägern eine Diskussion vorschlugen, demonstrierten sie sofort ihre Überlegenheit, und die Fallschirmjäger, indem sie auf den Vorschlag eingingen, ihre Unterlegenheit. Die Soldaten und alle, die herbeigeeilt waren, waren sich dessen bewußt, daß es vor allem die Bildung dieses Vorwandes zur Erstickung des sozialen Krieges unter der Verwirrung eines politischen Krieges zwischen der Rechten und der Linken zu verhindern galt. In ihrem Interesse lag es, daß der Putsch ganz schnell scheiterte, so wie es im Interesse der Staats-Linken lag, daß er nicht so schnell scheitern würde, sondern daß ihm genügend Zeit bliebe, um einigen Schaden anzurichten.


ÜBERLEITUNG

Wie souverän dieses Kalkül von den Soldaten und der Bevölkerung in den entscheidenden Stunden des Putschversuchs zunichtegemacht wurde, wie transparent für die Öffentlichkeit, praktisch vor den Fernsehkameras, dieser Putsch vereitelt wurde – totale Demokratie gegen obskurste Verschwörung, mitten im pochenden militärischen Herzen des
Staatsapparats — , das kann man sich in der WDR-Dokumentation „Viva Portugal“ wie schon gesagt genau anschauen.

Stattdessen lassen wir nun einige der Szenen aus den Klassenkämpfen in Portugal, die sich nun vom Frühjahr bis zum „Heißen Sommer“ 1975 weiter eskalierten, über die Leinwand huschen, so wie sie Guy Debord damals in einem Film eingesetzt hat, und in denen vor allem zum Ende hin das Selbstbewußtsein und Hochgefühl der proletarischen Bevölkerung zum Ausdruck kommt.


6. Ausschnitt aus dem Debord Film „Réfutation …“


ÜBERLEITUNG

Was die ominöse Aussage Jaime Sempruns genauer bedeutet: „genügend Zeit für die Herrschenden, um Schaden anzurichten“, und wovor die Kommentare in Debord’s Film, der noch während des heissen Sommers 1975 entstand, warnen möchten, das kann hier wieder nur ganz grob skizziert werden:
Zum einen die Militärdiktatur – diese linke Militärdiktatur im Namen einer „Volksmacht“ (Poder Popular) bis zum nächsten reaktionären Coup (der dann am 25.November 1975 endlich die ersehnte parlamentarisch-bürgerliche Ordnung einleiten konnte, also erfolgreich war) – also bis zur Beendigung der drohenden Doppelherrschaft – als ein „revolutionäres“, populistisch auftretendes Gewaltmonopol einerseits aufzubauen, das aber strikt von oben bis unten befehlshierarchisch funktionieren sollte, und gleichzeitig andererseits eine parlamentarisch-bürgerliche Gewaltenteilung anzubahnen, die das Gewaltmonopol endlich direkt in die Hände der Repräsentation des „demos“ in Gestalt der Parteien überleiten, also der bürgerlich-kapitalistischen Legislative und ihrer Gerichte und Exekutivorgane ausliefern würde und die sich auf eine wieder passiv-ohnmächtige „schweigende Mehrheit“, d.h. ein bloßes Wählervolk von mehrheitlich Eigentumslosen und Kleineigentümern berufen könne, so dass sich dieses Gewaltmonopol mit einer Stimmzettel-Akklamation für die kapitalistischen Sachzwänge alle paar Jahre legitimieren kann. Darauf war vor allem die demagogische Strategie der Sozialdemokratie in Gestalt der „Sozialistischen Partei“ (PS) angelegt, der Wahlgewinnerin in Portugal um Mário Soares und seinen Ge-Noske: Melo Antunes, dem Kopf der später so genannten „Gruppe der 9“ in der Militärjunta, die auf ihre Gelegenheit zum Zuschlagen gegen „die Linken“ in der Junta lauerten und inzwischen die Angst vor allem der Mittelklassen schürten vor einem Versinken in „Chaos und Bürgerkrieg“.
„Schaden anzurichten“ war demgegenüber bei den sich schnell herausbildenden Selbstverwaltungsorganen des aktiv gewordenen Proletariats und der Landarmut, indem diese nach Möglichkeit der autonomen Entscheidung beraubt wurden, der eigenständigen freien Kommunikation miteinander, die sie in der Entfaltung ihrer autonomen, räte-ähnlichen Selbstverwaltungsorgane so elementar brauchten und insbesondere durch Übernahme einer Radiostation des katholischen Klerus und des es eines sozialdemokratischen Eigentümers für ihren permanenten Dialog benutzten: das war die zähe, sich immer weiter eskalierende Auseinanderstzung um „Radio Renascenca“ und um die Zeitung „Republica“ – sie konnte erst gegen Ende 1975 zugunsten der Reaktion enschieden werden, und zwar das in-die-Luft-Sprengen der von der Belegschaft besetzten Radiostation durch die Regierung in dem einen Fall und im anderen Fall durch die Reprivatisierung der Zeitung nach dem sozialdemokratischen Militärputsch am 25. November’75.

Wir lassen zu der proletarischen Bemächtigungsbewegung den Arbeiterbewegungsforscher Peter Robinson sprechen, der selber während jener Jahre und danach in Portugal viele Interviews gemacht und ausgewertet hat mit beteiligten Arbeiter_innen, er fasst diese Phase ungefähr im Jahr 2010 in dem Aufsatz „Arbeiterräte in Portugal 1974-75“ zusammen und bechreibt:


7. Robinson: „Arbeiterräte in Portugal 1974/1975“

Peter Robinson: Arbeiterräte in Portugal 1974/1975. In: Dario Azzellini &
Immanuel Ness (Hrsg.): Die endlich entdeckte politische Form. Fabrikräte und
Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute. Köln 2012.

Die popularen Versammlungen. Die populare Macht war keine Rhetorik. Jeden Tag übernahmen in massivem Umfang Beschäftigte ihre Fabriken. Das Ausmaß der Fabrikbesetzungen erinnerte an Turin 1920, an Katalonien 1936 oder Frankreich 1936 und 1968. Die Besetzung von Land, Fabriken und von Häusern und Wohnungen zog viele Leute in die Selbstverwaltung, die sonst ausgeschlossen gewesen wären, weil sie nicht in Fabriken arbeiteten. (Ein bißchen Vorsicht ist [freilich bei der Beurteilung dieser Aktivitäten] angebracht: Viele Besetzungen entstanden durch die Notwendigkeit der Leitung, weil die Besitzer und Grundeigentümer die Unternehmen aufgegeben hatten. Im allgemeinen waren die Firmen unter Arbeiterkontrolle die kleineren Unternehmen – und nicht die kämpferischsten.)
Es wurde [zum Beispiel] erklärt, ein Golfplatz an der Algarve stehe nun allen offen, ausgenommen den Mitgliedern. [Die Radioredaktion von] Radio Renascenca [, das seiner Eigentümerin, der katholischen Kirche, von dieser Redaktionsbelegschaft enteignet wurde,] hängte ein Live-Mikrofon über die Straße, so daß bei jeder Demonstration oder Debatte diese Politik der Straße sofort live gesendet werden konnte. – Nach einem Arbeitskampf übernahmen die Arbeitenden [das Gebäude der sozialistischen, d.h. sozialdemokratischen Zeitung] República [, dem Organ der PS von Mario Soares,] in ihre Kontrolle und gaben die Zeitung im Namen der Bewegung der „Volksmacht“ heraus… Das Statement der Beschäftigten vom 24.Mai 197?] erklärte: „ ‚República’ gehört nun keiner Partei mehr. Alle fortschrittlichen Parteien werden dieselbe Behandlung erfahren, die allein von der Wichtigkeit der Ereignisse abhängen soll.“ Doch dieser Akt beraubte die [sozialdemokratische] ‚Sozialistische Partei’ (PS) ihrer wichtigsten Zeitung und führte zu vielen hitzigen Streitereien über das Recht, zu veröffentlichen, und die Freiheit der Rede. Dies hatte großes Gewicht [unter dem Aspekt der „Antifaschismus“-Rhetorik], denn die PS war bis zum 25.April ’74 verboten gewesen. (…)


ÜBERLEITUNG

Im April 1975, kurz vor den ersten Parlamentswahlen, wurde ein Räte-Kongress von der militanten antiimperialistischen Organisation PRP / BR [Revolutionäre Partei des Proletariats / Revolutionäre Brigaden] angeregt, mit dem die CRTSM-Bewegung entstand („Räte der revolutionären Arbeiter, Soldaten und Matrosen“). Sie hatte im revolutionären Prozess in Portugal zwar Gewicht, erlangte aber nie die Verankerung, mit der die arbeitende Bevölkerung im ganzen Land und besonders in der Armee eine Art Doppelherrschaft hätte ausüben oder gar eine ungeteilte Rätemacht hätte durchsetzen können. Obwohl die CRTSM-Bewegung Verbindungen zur MFA um den Oberst Carvalho herum besaß oder zu besitzen beanspruchte, schieden sich doch genau an der entscheidenden Frage die Geister: entweder die Diktatur einer wenn auch noch so linken Staatsmacht anzuerkennen, die zwar vorgeblich, in der Phrase, „immer mit dem Volk“ gehen und „für das Volk“ die Macht ausüben, sich aber niemals als getrennte und über dem Volk stehende Macht selber infragestellen lassen wollte und zudem noch neben einer parlamentarischen Mehrparteiendemokratie existierte, worin vor allem die bürgerlich-kapitalistischen und reaktionären Interessen repräsentiert werden, also dem Inhalt nach die Diktatur der Grundbesitzer und der Bourgeoisie, – oder eben die Herrschaftsform für den gegenteiligen Klasseninhalt anzustreben: die anti-staatliche revolutionäre Diktatur des Proletariats als ungeteilte und direkte Rätedemokratie unmittelbar zum Projekt als nationales Netzwerk der Arbeiter_innen, Landarbeiter_innen und Soldaten selbst zu machen. Diesen rasanten Klärungsprozess der Herrschaftsform schildert Peter Robinson als Eskalation, die sofort auf die Parlamentswahlen vom 25.April 1975 folgte und de facto alle Macht für die Räte forderte, während jedoch diese Perspektive durchaus noch nicht in einer Bevölkerung bewußt verankert war, die stattdessen gerade erst vertrauensvoll der sozialdemokratischen Parlamentspartei PS mit ihrer bürgerlich-demokratischen Herrschaftsperspektive zu einem eindeutigen Wahlsieg verholfen hatte:


7. Robinson: „Arbeiterräte in Portugal 1974/1975“

Die CRTSMs riefen zu einer Demonstration für den 17. Juni auf. Diese Demonstration von etwa 30 000 Menschen war politisch gesehen eine der radikalsten seit dem 25. April [1974], denn sie forderte die politischen Parteien und ihre Einrichtung, die Verfassunggebende Versammlung [= das neugewählte Parlament], heraus. Bewußt wurden [bei dieser Demonstration] Slogans zur Unterstützung der MFA weggelassen. Die wichtigsten Parolen waren: ‚Für eine revolutionäre Regierung ohne Parteien!’ und ‚Für eine sozialistische Revolution!’ Am Tag der Demonstration wurde eine dritte Parole hinzugefügt: ‚Sofortige Auflösung der Konstituierenden Versammlung!’ Der Demonstration wurde ein straßenbreites Transparent vorangetragen, auf dem stand: ‚Weg mit den Ausbeutern, die Macht den Arbeitenden!’ (…) Vierundzwanzig Stunden nach der Demonstration der CRTSMs erklärte der Revolutionsrat der MFA: Die ‚MFA lehnt die Diktatur des Proletariats ab, die von der bewaffneten Miliz [= den PRP / BR -Brigaden] unterstützt wird, denn sie paßt nicht in das für die MFA bereits feststehende pluralistische Konzept der portugiesischen Revolution.’ Binnen weniger Tage stimmte die Generalversammlung der MFA mit knapper Mehrheit den ‚Leitlinien für das Bündnis zwischen dem Volk und der MFA’ zu, die auch als ‚MFA-Povo-Pakt’ bekannt geworden sind. Dadurch gelang es vorübergehend, die PCP [= die SU-loyale stalinistische KP Portugals], [staatssozialistische Linksradikale wie die MES und] die ‚Fünfte Division’ der mit der MES verbundenen Offiziere, das COPCON [Kern der linken Militärkommandos mit dem populären Architekten der „Nelkenrevolution“, Otelo Carvalho, als Oberkommandierendem] und auch einige Unterstützer der CRTSMs zusammenzuführen. Das Ziel war, eine parallele Macht zum [bestehenden] Staat und zum [gerade entstehenden] parlamentarischen System zu schaffen. Die Organisationen der [‚Volksmacht’] ‚Poder Popular’ sollten integriert werden und als Volksversammlungen in pyramidaler Form unter dem Schutz der MFA stehen.“


ÜBERLEITUNG

Der verdeckte und offene Kampf um die Kontrolle über die MFA und um ihre Behauptung, um ihre Über- oder Unterordnung zur bereits formell entstandenen parlamentarischen Regierungsmacht und letztlich um ihre Ausschaltung entbrannte nun zwischen den Kräften der pro-russischen stalinistischen KP, die sich der Bemächtigung der staatlichen „Kommandohöhen“ trotz ihrer Wahlniederlage verführerisch nahekommen sah, und den wütenden Sozialdemokraten, die sich von der KP und den Linksradikalen in der MFA um die Früchte ihres parlamentarischen Sieges geprellt sahen und nun in ganz Portugal, vor allem im Norden, alle Kräfte der Rechten und der äußersten Reaktion entfesselten unter ihrer Fahne, unter dem antikommunistischen Banner des Mário Soares, in einer monatelangen Hetz- und Angst-Kampagne, welche auch zahlreichen Terroraktionen aus dem rechtsextemen Untergrund den Weg bahnte und Spielraum verschaffte. Im Spätsommer war es dann endlich den Sozialdemokraten (der PS) gelungen, die Präsenz der PCP-Funktionäre in den sich ablösenden Provisorischen Krisenregierungen zurückzudrängen, so daß diese stalinistische Ordnungsmacht plötzlich zur linksradikalen Allianz ihre Zuflucht nehmen mußte, was es der Rechten wiederum erleichterte, die Gefahr des KP-Putsches im Dienste der großrussischen Supermacht und die Gefahr eines Bürgerkrieges zu beschwören und selbst mit Putsch-Provokationen im Trüben zu fischen, während die sozialdemokratischen und rechten „linken Militärs“ nun endgültig die MFA von oben und von innen heraus spalten und aufrollen konnten. Das Ergebnis dieser auch heute noch schwierig im Einzelnen zu durchschauenden Züge der herrschenden Cliquen an der Spitze des Staatsapparats und seines militärischen Kerns war dann der – nach all dieser Vorarbeit –„überraschend“ leicht gelingende Militärputsch unter dem sozialdemokratischen Rechten General Eanes am 25.November 1975, der den „Andauernden Revolutionären Prozess“ (PREC) schlagartig abwürgte und die Hegemonie des MFA über den Staatsapparat ein für allemal beendete (Der Starke Mann Eanes wurde dann 1976 parlamentarisch zum law-and-order-Präsidenten gewählt).
Uns interessieren viel mehr die Selbstorganisierungsansätze „unten“ während jenes „heißen Sommers und Herbstes“ 1975: auf seiten des Proletariats und insbesondere auf seiten der Soldaten, die sich mehr und mehr als „Arbeiter in Uniform“ begriffen und nicht nur die immer noch – bis zur hinausgezögerten Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien in Afrika 1975 – von der MFA und den Provisorischen Regierungen erzwungenen Verschiffungen der Soldaten nach Afrika bekämpft haben, sondern in jenen Monaten auch zunehmend begonnen haben, unabhängig von den Kommandeuren sich in Ansätzen zu Soldatenräten selbst zu organisieren und als bewaffnete Teile oder Organe einer entstehenden proletarischen Rätemacht zu formieren. Doch blieben diese Ansätze viel zu sporadisch und halbherzig. Charles Reeve hat dies in seiner Analyse „Die portugiesische Erfahrung“ scharf und präzise im einzelnen kritisiert. Peter Robinson, der als Trotzkist die „linke Staatsmacht“ der MFA zu schonen versucht, läßt das Problem der unzulänglichen Herausbildung von Soldatenräten untergehen in seiner äußerst knappen, formelhaften Zusammenfassung der Zusammenarbeit von MFA-Militär und Arbeiterkomitees, bevor er sich der ausführlichen Schilderung der avancierten Arbeiterselbstorganisation im „Roten Setúbal“ gegen Ende 1975 zuwendet:


7. Robinson: „Arbeiterräte in Portugal 1974/1975“

„Nach dem versuchten Staatsstreich [Spínolas] vom 11. März 1975 wurden die Treffen zwischen Arbeitern und Soldaten weit besser organisiert.
Die Soldaten und Offiziere etablierten direkte Beziehungen zur lokalen Bevölkerung und bauten mit militärischer Ausrüstung Straßen und Brücken. (…)
Es war eine Zeit schneller Radikalisierung und Polarisierung. (…)
[weiter S.341 oben bis S.345 oben:]
Das Comité de Luta (Kampfkomitee) Setúbal [zum Beispiel] wurde gegründet in Reaktion auf den Versuch der 6.Provisorischen Regierung vom 29.September 1975, alle Radiosender, besonders aber ‚Radio Renascenca’, zu schließen. Zu diesem Zeitpunkt versuchten einige Volksversammmlungen, ihre Organisationen wieder aufzubauen und weniger Rücksicht auf die inzwischen [seit dem Spätsommer] hoffnungslos [in Sozialdemokraten und Linksradikale] gespaltene MFA zu nehmen. Es war kein Zufall, dass das Comité de Luta sich ‚Kampfkomitee’ nannte – und nicht ‚Volksversammlung’. Vertreter der Kasernen trafen sich in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1975 mit solchen von Arbeiter- und Bewohner-Kommissionen und brachten das auf den Weg, was als das fortgeschrittenste Beispiel eines Arbeiterrats in Westeuropa seit dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte.
Setúbal verfügte, zusätzlich zu den über 4000 Arbeitern der SETENAVE-Werft, über einige Fabriken, die zu den neuerrichteten und kämpferischen Industrien gehörten. Vergleicht man Setúbal mit anderen portugiesischen Städten, so gab es dort eine hohe Konzentration von HandarbeiterInnen. Das erste eigentliche Treffen fand am 6.Oktober1975 statt, und 500 Beschäftigte kamen. Es war das erste von acht Treffen. Die Struktur, die bis zum 25.November [dem letzten konterrevolutionären Putsch] aufrechterhalten wurde, bestand in wöchentlichen Treffen der Arbeiter- und Bewohner-Kommissionen (Gewerkschaften und andere Organisationen der einfachen Bevölkerung hatten Rede-, aber kein Stimmrecht). Die Treffen begannen um 9 oder 9.30 Uhr abendsund dauerten bis 1 Uhr morgens. Bei jeder Sitzung stellten die Mitglieder die Tagesordnung für das nächste Treffen zusammen. Die Beteiligung lag im Durchschnitt bei300 bis 500 Personen, doch es gab auch kleinere Treffen und gemeinsame Treffen mit Grupen wie dem Stadtrat. ‚Von Beginn an legte man die Betonung auf die Notwendigkeit, die Arbeit auf die realen Probleme der Stadt und der Fabriken hin zu orientieren, wodurch die Einheit der Arbeitenden in der Praxis ermöglicht wurde.“ [Zit. bei Robinson] Nach Diskussionen der Tagesthemen auf nationaler Ebene machte sich das Komitee daran, eine Reihe praktischer Aktionen zu organisieren und zu koordinieren. Die Liste ist beeindruckend. Die erste größere Aktion war die Organisierung ‚der größten Demonstration in Setúbal von Soldaten und Bevölkerung’ seit dem 1.Mai, die schließlich am 16.Oktober stattfand. Bei einem Treffen am 13.Oktober stimmte das Komitee für die Unterstützung aller Übernahmen von Zeitungen durch die Beschäftigten. Mit der moralischen Unterstützung des Komitees sperrten die Arbeiter von ‚O Setúbalense’ den Eigentümer ein und übernahmen die Zeitung am 21.Oktober selbst.
Am darauffolgenden Tag wurde das Zentrum für regionale Agrarreform in Alcácer do Sal (südlich von Setúbal gelegen) durch eine Bombe zerstört. Landarbeiter besetzten ein anderes Haus in Alcácer do Sal und machten daraus ihr neues Zentrum. Die Unterstützung wurde vom Komitee koordiniert, das auch Zivilisten als Verstärkung hinschickte; auch Soldaten kamen zu Hilfe und gaben Bürgern Gewehre. Für viele war die bedeutendste Errungenschaft die Verteilung von Agrarprodukten durch ein Konsumentenkomitee, das aus gewählten Delegierten des [Kampf]Komitees [von Setúbal] bestand.
Die Vitalität der Bewohnerorganisationen war ein wichtiger Beitrag zum Leben des Komitees, und sie waren bereits dabei, alle leerstehenden alten und neuen Häuser zu besetzen; es wurden Kriterien entwickelt, wie die Miete ans Einkommen gebunden werden sollte, wobei auch das Alter des Gebäudes, die Lage und Größe, die Größe der Familie und andere Kriterien einfließen sollten, und die Miete sollte ans Kampfkomitee und nicht an den Grundeigentümer gezahlt werden.(…)
Eine der führenden Beteiligten, Isabel Guerra, sagte uns: Während die CTs [= Arbeiterkommissionen] in den ‚Volksversammlungen’ willkommen waren, wurden ihre Stimmen in der Praxis durch die ganz unmittelbaren Probleme der Bevölkerung übertönt. Das geschah sogar folgendermaßen im Comité de Luta Setúbal: ‚Das Komitee war eine Einheitsfront, die trotz politischer Differenzen durch die gemeinsamen Aktivitäten zusammengehalten wurde. Ich lernte, daß die Leute zusammen diskutieren und lernen können, auch wenn sie politische Differenzen haben. Ich erinnere mich an eine politische Debatte die einer von der PCP, der MES [linkskatholisch-linksradikale Staatssozialisten], UDP [Maoisten], LCI [Trotzkisten], PRP [guevaristische Antiimperialisten] und der MRPP [prowestliche Maoisten] organisierten Demonstration vorausging. Es wurde entschieden, daß man sich konsensuell auf gemeinsame Parolen einigen sollte. Dazu wurde nicht abgestimmt. Man wollte diskutieren, bis eine gemeinsame Lösung gefunden sei. Und so geschah es.’
(…)
Die Volksbewegung suchte nach einem von außen kommenden Feind, nicht einem aus der MFA oder aus dem Spektrum der politischen Linken. Die Alternativen schienen Sozialismus oder Barbarei zu sein. Die große Mehrheit der Linken dachte, daß es binnen weniger Monate zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Klassen kommen würde. Der Kommandant der COPCON, Otelo Carvalho, meinte: ‚Was mich beunruhigt, ist die mögliche Chilenisierung von Portugal. (…) Sie bauen Tötungsmaschinen auf. Maschinen der Repression. Damit können sie ein neues Chile schaffen. Mich treibt diese Angst um.’ Gerüchte um einen bevorstehenden Putsch waren endemisch und ein erschöpfendes Thema des politischen Lebens; auch in Barreiro, von Lissabon aus gesehen auf der anderen Mündungsseite des Tejo, läuteten die bombeiros voluntários (= die freiwillige Feuerwehr) ihre Glocken bei jeder Andeutung eines ‚Putsches’, und die Bevölkerung, die häufig in den frühen Morgenstunden dadurch geweckt wurde, lief auf die Straße, um dort zu entdecken, daß es sich um einen Fehlalarm handelte. Wahrscheinlich hätten sich die Arbeiter und Soldaten einem konservativen Putsch physisch in den Weg gestellt. Die ‚Gemäßigten’ um die [sozialdemokratische] ‚Gruppe der Neun’ [ihrerseits] erklärten, es werde ein Aufstand vorbereitet. Der [von dieser Gruppe] gegen die Linke vorbereitete Zug wurde also [präventiv von dieser Fraktion der Linken] damit gerechtfertigt, daß es die Linke selbst sei, die den Putsch vorbereitete. Diese [linksradikalen] Vorbereitungen waren [indes – wenn es sie überhaupt gab –] weit weniger fortgeschritten, als die ‚Gemäßigten’ und die Rechten annehmen [lassen] wollten. Doch stimmt es sicherlich, daß Teile der Linken mit dieser Vorstellung geliebäugelt hatten. (…) Aus Setúbal konnte man vernehmen:
‚Eine damit verbundene Schwäche war, daß die Probleme der Soldaten auf den Treffen [des Kampfkomitees] nicht offen diskutiert wurden. Die PRP [guevaristische antiimperialistische „Revolutionäre Brigaden“] war mehr daran interessiert, diese auf eine mehr konspirative Weise zu behandeln. – Am 25. November’75 [dem Tag des konterrevolutionären Putsches] griffen Bauarbeiter zu den Bulldozern und versperrten die Straßen nach Setúbal, sodaß die Pagnards, die Wagen der Armee, nicht in die Stadt eindringen konnten. Sie machten den ersten Zug.’ erzählt Isabel Guerra. Die Bauarbeiter kontaktierten das Comité de Luta und riefen dazu auf, um die Stadt Setúbal herum Barrikaden zu errichten. Das Comité baute ein geheimes Radio auf, das ein paar Tage lang sendete. Das Rathaus wurde besetzt. Isabel Guerra sagte abschließend: ‚Wir versuchten die [linksradikalen] Organisationen zu kontaktieren, auch die Gewerkschaften und die kulturellen Vereinigungen. Wir riefen zu einer Demo außerhalb der Kasernen auf. (…) Das Problem am 25.November war, daß weder die Gewerkschaften noch die von der PCP kontrollierten Arbeiterkommissionen (CTs) ein Interesse daran hatten, (…) so daß sie die Leute nicht mobilisierten. (…) Im Regiment übernahmen die Soldaten von einem Hauptmann Waffen und kontrollierten die Lage, solange sie konnten. (…[Zwar:]) der 25. November zeigte, daß das Comité de Luta auch in Krisenzeiten funktionieren konnte. Aber das Problem des Komitees und auch der CTs [Arbeiterkommissionen] lag darin (…), daß die AktivistInnen in dieser Zeit meistens eine kämpfende Minderheit blieben. Diese Schwäche ist sehr bedeutsam, um die [konterrevolutionäre] Offensive des 25.November verstehen zu können. Die Diskussionen, die im Komitee stattfanden, konnte man am Arbeitsplatz nicht führen. Es handelte sich (…) um eine politische (…) Diskussion einer Minderheit – der Intelligenz in der Arbeiterbewegung. Sogar bei den CTs-Delegierten im Comité handelte es sich um Leute, die zwar ehrlich und anerkannt waren, doch den Ideen des Comité de Luta bereits offen gegenüber standen.’
Die Aktivisten und Aktivistinnen im Comité entschieden sich, keinen Aufstand zu wagen, nicht, weil sie das nicht gekonnt hätten, sondern weil sie isoliert geblieben wären, weil es kein nationales Netzwerk von gleichgesinnten Organisationen gab. Der 25.November war ein Wendepunkt, und der revolutionäre Prozess lief aus.


8. Ausschnitt aus dem Film „Setúbal, Ville Rouge“


ÜBERLEITUNG

Eine etwas andere Einschätzung der Gründe für die schließliche Niederlage der „Portugiesischen Commune“ gibt – unmittelbar nach dem Militär-Coup des General Eanes vom 25.November 1975 – ein Teilnehmer der Revolution, der in Portugal aufgewachsen war, der dann vor dem Einzug in die Kolonialarmee in den 1960er Jahren desertierte, im Exil in Frankreich an der proletarischen Bewegung der Besetzungen im Mai 1968 teilnahm und nach dem 25. April 1974 für 2 Jahre nach Portugal zurückkehrte: unter dem Pseudonym Charles Reeve hat er „Die portugiesische Erfahrung“ analysiert, sobald er nach dem Eanes-Coup dann wieder nach Frankreich gegangen war. Jetzt schliessen wir unseren Überblick ab mit seiner Einschätzung der Grenze, der inneren Schranke der Revolution im damaligen Portugal, die trotz aller Dynamik des Parteibildungsprozesses des Proletariats, trotz der Ansätze bereits zu einer Doppelherrschaft, die eine revolutionäre, total demokratische, anti-staatliche Diktatur des Proletariats über die Ausbeuterklassen nicht nur bereits forderte sondern auch ermöglichte, – stattdessen im entscheidenden Augenblick die Lähmung und Ausschaltung durch die Salamitaktik möglich machte, eine Salamitaktik, welche die bürgerliche, zunächst noch im Namen des „Sozialismus“ , des „demokratischen Sozialismus“ auftretende sozialdemokratische Reaktion vor und nach dem November 1975 systematisch anwendete. Schliesslich unterlag also auch dieses so weit in seiner autonomen Macht entwickelte revolutionäre Proletariat der uns in Deutschland so wohlbekannten Figur des „Ge-Noske“. Wie konnte das geschehen? Charles Reeve lässt selbst zuerst Arbeiter und Soldaten berichten:
Er verweist u.a. auf die Aussage eines Arbeiters von LISNAVE, der den 25.November 1975 folgendermaßen erlebt hat:


9. Charles Reeve: „Die portugiesische Erfahrung“

Charles Reeve: Die portugiesische Erfahrung. Die Konsequenzen der putschistischen
und militärischen Konzeption der Sozialen Revolution; die politische Eroberung der
Armee, die Soldatenkomitees und die Krise der Volksmacht. Hamburg 1976.

‚Man kann sagen, daß wir, während der kritischen Tage, den Mangel an Information und die Desorientierung am stärksten empfunden haben. Als wir bei LISNAVE von der Entwicklung der Aktion der Paras erfuhren,

[Die „Paras“ – so hat Charles Reeve zuvor erläutert – das waren bewußtseinsmäßig besonders rückständige Fallschirmjäger-Einheiten, die kurzsichtig, impulsiv und unkoordiniert unter der Führung ihrer frustrierten Ausbilder-Unteroffiziere – und obendrein manipuliert von der jetzt von außerhalb der Regierung zur Macht drängenden stalinistischen KP – am 22. November’75 ihre Luftwaffenstützpunkte besetzten und damit den Vorwand lieferten für den Rechtsputsch am 25.11.; und fünf Tage nach dem Beginn dieser Besetzung wurde von den aufs Ganze gehenden Sozialdemokraten im Militärkommando die linksradikale Führungsfigur der „Nelkenrevolution“, der populäre Otelo de Carvalho, als Kommandeur der entscheidenden Militärregion Lissabon abgesetzt, was sofort Warnstreiks in Fabriken zur Folge hatte. Vor diesem Hintergrund also sagt der LISNAVE-Arbeiter:]

Als wir bei LISNAVE von der Entwicklung der Aktion der Paras erfuhren,
entfesselte sich eine breite Unterstützungsbewegung. (…) Darum waren auch alle Arbeiter bei LISNAVE sofort bereit, mit der Waffe in der Hand auf die Straße zu gehen und an der Seite der Paras und der Genossen Soldaten der Lissaboner Einheiten zu kämpfen. Das ging so weit, daß die mit der [stalinistischen] PCP liierten Elemente nicht versuchten, die Vollversammlung vom 25. November zu manipulieren. Die Erregung war so stark, daß wir ohne etwas zu entscheiden auseinandergegangen sind und die Leute meinten, am nächsten Tag wäre der Streik und Generalmobilisierung, wie es dann auch tatsächlich der Fall war. Viele Mitglieder der PCP sind übrigens gar nicht auf diese Vollversammlung gekommen. Das ist vielleicht der befremdendste Aspekt ihres Verhaltens.

[Die von den Sozialdemokraten damals nahezu aus der Regierung verdrängte PCP hatte nämlich, wie schon gesagt, die Aktion der Fallschirmjäger/Ausbilder am 22. November zunächst allem Anschein nach ermutigt, stimuliert und ausgenutzt, um ihrer eigenen putschistischen Machtergreifungs-Option ein Stück näher zu kommen; sie zog sich jedoch angesichts der militärischen Schlagkräftigkeit der rechten Commandos unter General Eanes ebenso rasch zurück und zog es vor, sich während der entscheidenden Stunden und Tage bedeckt zu halten. So stellen jedenfalls die Forschungsergebnisse heute die undurchsichtige Doppeltaktik der KP Portugals dar. Das Sichbedeckthalten der zuvor auf eine außerparlamentarische Kraftprobe drängenden Stalinisten befremdete damals viele. Der LISNAVE-Arbeiter berichtet abschließend:]

Was die Arbeiter dann demobilisiert hat, war der Mangel an Richtung und Führung der Kräfte, die immer behauptet haben, an der Seite der Arbeiter zu stehen. Als unsere Delegationen auf die Flottenbasis von Alfeite und in das Fort von Almada gegangen sind, um unsere Unterstützung anzubieten, und Waffen verlangten, um unsere Klasse zu verteidigen, hat man uns geantwortet, ‚ruhig zu bleiben’, es wäre notwendig, abzuwarten, etc. Tatsächlich hat es sich so verhalten, daß wir überhaupt nicht orientiert wurden und man keine Waffen an uns verteilte.Deshalb haben wir nichts unternehmen können, um die Commandos daran zu hindern, ihren reaktionären Coup durchzuführen, indem sie die Einheiten zerschlugen, in denen die Soldaten sich ihrer Position als führende Klasse und Avantgarde im Kampf für den Sozialismus bewußt waren.
Wir wollten eingreifen, aber wir wußten nicht, was zu tun sei. Dieser Eindruck und die falschen Informationen, die fortwährend vom Radio übertragen wurden, haben uns desorientiert und uns jeder Schlagkraft beraubt. Einmal mehr ist die Arbeiterklasse getäuscht worden, und ihre Feinde hatten freie Hand, die Bedingungen für unsere Ausbeutung und Unterdrückung zu restaurieren.‘
(…)
Ein Matrose der Marinebasis von ALFEITE-Lissabon erlebte das so:
„Es war 11 Uhr abends, und dem Delegierten der C.D.E.I.A. [= Basisorganisation der MFA in der Marine, für die Matrosen; von der PCP kontrolliert] war es in der Militärbasis ALFEITE unmöglich, die Schiffsbesatzungen oder die Kaserne etc. unter Kontrolle zu halten. Alle wollten auf die Straße, um das Volk zu verteidigen. (…) Wir übten Druck aus und bestanden darauf, hinauszugehen. Um 11 Uhr haben wir Befehl erhalten, uns zu bewaffnen. Wir haben uns bewaffnet – etwa 400 Mann –, (…) und da waren auch etwa 2000 Arbeiter aus dem Gebiet von Almada, die bereit waren, für die Revolution ihr Leben zu riskieren.
Die Marineoffiziere, die Mitglieder des Revolutionsrates [der MFA], alles Anhänger der sogenannten ‚Goncalvistischen’ pro-PCP-Tendenz [in der MFA], waren gegen diese Entscheidung – sich zu bewaffnen und die Militärbasis zu verlassen – und behaupteten, daß man dabei wäre, ‚die Krise’ durch ‚Verhandlungen auf hoher Ebene’ zu lösen !“

Und abschließend noch eine Stimme aus dem Kampfkomitee von Setúbal [– jenem „roten Setúbal“, der Industriestadt im Industriegürtel südlich von Lissabon]:

‚Was das Kampfkomitee von Setúbal betrifft, das 60 Arbeiterkommissionen und ebenso viele Stadtteilkommissionen regruppierte, so haben wir sofort eine Versammlung einberufen, auf der aber viele Gruppen nicht erschienen sind: die von der PCP infiltrierten Gruppen waren in diesem Moment praktisch ohnmächtig. Trotzdem sind Tausende von Arbeitern gekommen, um zu erfahren, was zu tun sei; und wir haben vorgeschlagen, uns vor der Kaserne zu versammeln, wo wir begannen, Waffen zu verlangen. Der Kommandant war abwesend, und wir haben die ganze Nacht gewartet. Am nächsten Tag ist der Kommandant gekommen und hat eine Versammlung mit dem Sekretariat des Kampfkomitees und mit den Militärkommissionen des Regiments abgehalten. Die Arbeiter forderten Waffen, aber die Antwort war immer: NEIN! In der Nacht des 26.November sind immer mehr Leute gekommen. Am 27. sind wir nach Tancos gegangen [– das war die Luftwaffenbasis, wo die Besetzungsaktion der „Paras“ ihren Ausgang genommen hatte], um uns über die Aufstände zu informieren. (…) Zur gleichen Zeit sind in der Nacht des 27. November Militärlastwagen mit Soldaten aus Estremos in Setúbal angekommen. Sie sind zur Kaserne gefahren, die sich am Stadteingang befindet, haben draußen einige Runden gedreht und sind dann hineingefahren. Am nächsten Tag haben sie sich ‚an die Arbeit’ gemacht, das heißt: die Massen in Schach gehalten. Viele Verhaftungen sind vorgenommen worden, aber die Leute haben sich nicht einschüchtern lassen! Viele sind auf der Straße geblieben, ohne Angst vor Verhaftungen zu haben.
Zusammenfassend kann man sagen, daß es eine starke Mobilisierung in einigen Fabriken und besonders bei SETENAVE [= dortige Schiffswerft mit mehreren tausend kampffreudigen Arbeitern, unter denen der Linksradikalismus stark verwurzelt war] gab. Die meisten sind nach Lissabon oder Tancos gegangen, nachdem sie die Nacht vor den Toren der Kasernen verbracht hatten.
Die PCP und die [ihr zwillingsartig verbundene bürgerlich-antifaschistische] MDP hatten ihre [Mitglieder-]Basis auf ein Minimum reduziert und sie in ihrem jeweiligen Parteisitz zurückgehalten. Viele Arbeiter sind zur PCP gegangen, um zu fragen, was zu tun sei. Man hat ihnen geantwortet, sie sollten nach Hause gehen und schlafen, weil sich nichts Besonderes ereignen würde.“
(…)
Um die Reaktion der Arbeiter auf den Putsch vom 25. November zu verstehen, muß man von der Krise ihrer Basisorganisationen, [denen] der berühmten Volksmacht, ausgehen. [Und im Resultat dieser Krise des ‚Poder Popular’] kann man feststellen, daß diese Organisationen Ende 1975 einen langen Prozeß der Bürokratisierung und Manipulation durch die politischen Gruppen durchgemacht haben. Am Anfang spontanes Produkt des Kampfes der Massen, sind die Arbeiter- und Stadtteilkommissionen (CTs und CMs) sehr schnell zum Ort der Auseinandersetzungen zwischen den politischen Gruppen geworden. (…)
Am 25.November finden sich die Arbeiter der Regionen, in denen die Kampfbereitschaft noch lebendig ist, besonders in der Industriezone von Lissabon, bar jeder autonomen Organisation und eigener Perspektiven. Genau diese Stagnation in der Bewegung der Organisation des Kampfes bewirkt, daß die Arbeiter – wie auch die Soldaten – die Auffassung akzeptieren, nach der der ‚Ausweg aus der Sackgasse der Revolution’ die rein militärische Konfrontation sei. (…)
Welche Veränderungen der Konditionen ihrer Ausbeutung können sich die Arbeiter denn von derartigen militärischen Spielen erhoffen ? Am 25. November finden die Arbeiter, die sich den Arbeiter- und Stadtteil-Komitees [CTs und CMs] mit Begeisterung angeschlossen hatten, weder Informationen noch Aktionsperpektiven. Tatsächlich waren die aktivsten Kämpfer Mitglieder politischer Gruppen. Diese befanden sich im Sitz ihrer jeweiligen Organisation ! Umnd ohne sie funktionierten die Arbeiter- und Stadtteilkommissionen nicht mehr. Es bestanden keine Verbinidungen mehr zwischen ihnen. Der Masse der Arbeiter blieb deshalb nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen oder sich ratlos vor den Toren der Kasernen zu versammeln. Aus dieser Sicht hebt der 25. November auch die Inexistenz einer Basisbewegung hervor: die berühmte ‚Volksmacht’ ist tot ! Die wenigen Male, bei denen die Arbeiter mobilisiert und manchmal auch bewaffnet wurden, waren sie es als Mitglieder des Ordnungsdienstes ihrer jeweiligen Partei. Ohne autonome Organisation, ohne Bewegung und eigene Perspektiven, haben sich die Arbeiter natürlich denen zugewandt, die sich seit Monaten als ihre ‚Retter’ präsentierten: den ‚progressiven’ Militärs, den ‚Vereinigte Soldaten werden siegen’[-Komitees = SUVs]
Als Enthüllung der Konfusion unter den Arbeitern ist der Widerspruch anzusehen, der sich bei den militanten Arbeitern manifestiert, die die Arbeiterklasse weiterhin als ‚führende Klasse der Revolution’ betrachten und gleichzeitig von den ‚progressiven’ Militärs eine ‚Führung’ verlangen. Trotz der schwachen Mobilisierung der Arbeiter vor den Kasernen bestand zwischen den radikalen Arbeitern einerseits und den linken Militärs und politischen Gruppen andererseits eine unüberbrückbare Kluft. Während die revolutionären Arbeiter sich bewaffnen wollten, ‚um ihre Klasse zu verteidigen’, strebten die linken Militärs und politischen Gruppen eine Veränderung in den Machtstrukturen an. Die Weigerung der ‚progressiven’ Militärs, die Arbeiter zu bewaffnen, die sich vor den Kasernen versammelt hatten, erklärt sich zum Teil durch das Wissen um diese Tatsache und die Angst, die Bewegung nicht mehr in den Zügeln halten zu können. Die Arbeiter wandten sich in einem tragischen Moment der Schwäche und Unterworfenheit an die Soldaten und besonders an die Offiziere, mit der Illusion, der Kommandant einer Truppe könne Arbeiter bewaffnen, die bereit waren zu kämpfen… Welch ein Unterschied zu Haltung der katalonischen Arbeiter, die 1936 die Kasernen von Barcelona mit Gewalt nahmen, die Faschisten schlugen und der sozialen Revolution den Weg bahnten. Freilich handelt es sich in diesem Fall um den Anfang eines Arbeiteraufstands, während wir heute [Ende 1975] in Portugal am Ende reformistischer Illusionen angelangt sind, nämlich dem Glauben, daß eine militärische Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus den Mangel an Organisation und kollektiver Aktion der Arbeiter ersetzen könne.
(…)
die Sackgasse …, in die die Portugiesische Revolution geraten ist[:]
Die militärische Auseinandersetzung war in einem solchen Ausmaß als grundlegend angesehen worden, wie militärischer und politischer Apparat identisch wurden. Die Auseinandersetzungen der Klassen beschränkten sich somit auch auf rein militärische Beziehungen, Aus dieser Sicht haben die linken Organisationen nicht nur die Macht der Berufskader in der militärischen Institution unterschätzt, sondern auch die militärische Struktur selbst akzeptiert und legitimiert, ohne die ihre ‚progressiven’ Offiziere keine Offiziere mehr gewesen wären … und somit auch ihre Militanten, die als Kader und Unteroffiziere engagiert waren, keine Rolle mehr gespielt hätten.
Alle diese eingesetzte Energie, dieser ganze verschwendete militärische Eifer, hat sich letztlich in Portugal gegen diese linken Gruppen selbst gewendet:die militärische Institution ist zurückerobert worden, das Kontingent demobilisiert, einige Verhaftungen wurden vorgenommen… und nichts bleibt mehr übrig ! Die Zeitschrift COMBATE [Lissabon 12.12.’75] resümiert:
„Die Ereignisse während des Belagerungszustandes [ab dem 25. November] haben gezeigt: (…) zunächst die Unfähigkeit der Regimenter einer professionellen Armee, sich in ein revolutionäres Element zu verwandeln. Die Diszuplin, die Hierarchien, der Mangel an Initiative der Soldaten, das Kasernenleben und die daraus folgende entfremdung der soldaten von den arbeitern, das alles hat bewirkt, daß die progressiven Soldaten passiv blieben und von den opportunistischen Offizieren, die sich in staatskapitalistische Streitigkeiten verrannt hatten, entrechtet werden konnten und leicht besiegbar waren. Wir wollen nicht abstreiten, daß es progressive soldaten gibt. Es gibt sogar sehr viele. Nicht nur daß die Soldaten, bevor sie die Uniform anzogen, Arbeiter waren; die Armee ist auch ein Reservat praktisch kostenloser Arbeitskräfte, und das ist ein Aspekt, den die Staatskapitalisten immer maximal entwickeln. Aber die militärische Struktur trennt die Soldaten vom Rest der Arbeiter, und darum behaupten wir, daß, wenn die Soldaten in die militärische Struktur integriert bleiben, ihre Progressivität uninteressant ist. Der Weg zum Kommunismus muß über die Zerschlagung der Armee und die Beildung von arbeitermilizen führen, und zwar: bewaffnete Arbeiter auf der Basis von Produktions- und Wohn-Einheiten. Es ist für konsequente Revolutionäre nach den aufständen, die unlängst stattgefunden haben, unmöglich, das zu übersehen. Der Beweis dafür, daß die Offiziere, die ‚progressiv’ genannt wurden, nichts weiter als einfache Elemente einer Fraktion der herrschenden Klasse waren, ist, daß der größte Teil der Waffen, die in den Kasernen genommen wurden, nicht an die Arbeiter in den Fabriken und an die besetzten Besitzungen geliefert worden sind, sondern im Gegenteil an die politischen Parteien und Gruppen, die sie letztlich dazu ‚benutzten’, wechselseitig ihre jeweiligen Positionen zu verstärken, ihre Waffen gut zu verstecken und den Kasernengeist auszuprägen. Deshalb war es auch unmöglich für die arbeiter, mit der Waffe in der Hand, von den Kämpfen der [Fraktionen und infights innerhalb der] herrschenden Klasse untereinander zu profitieren. Selbst unter ‚Anerkennung spezifischer Situationen’ müssen wir uns die Frage stellen, ob die Armee prinzipiell im Dienste der Revolution’ stehen kann.“
(…)
Die Lehre, die große Lehre der Portugiesichen Erfahrung scheint klar zu sein: Wenn wir die internen Grenzen, die Funktionsfähigkeit des militärischen Apparates akzeptieren und auf seine ‚interne Transformation’ hinarbeiten, für ihre ‚Benutzung’ kämpfen, statt ihre Destruktion einzuleiten, so müssen wir zwangsläufig von denjenigen geschlagen werden, die wenig zahlreich, aber geschlossen die Regeln akzeptieren, nach denen die militärische Institution funktioniert. Als Beweis dafür gilt, daß, trotz mehr als einjähriger massiver Agitation in den Streitkräften, die Basisorganisationen der Soldaten und deren Institutionen niemals eine besondere Rolle gespielt oder eine Kontrolle auf das ‚Räderwerk’ der Maschine ausgeübt haben, sondern im Gegenteil dazu führten, den Mangel an Initiative und den Glauben an die ‚gute’ Armee der ‚progressiven’ Offiziere unter den Soldaten zu verstärken.


ÜBERLEITUNG

So scheint nach 20 Monaten Revolution die erträumte Einheit von „Arbeiter und Soldaten“, von Revolutionär und Militär, am vorläufigen Ende der „Nelkenrevolution“ wieder da, wo sie als militärische Verschwörung angefangen hatte: bei der Figur des geprellten, kaputtgegangenen heldischen Protagonisten, den der berühmte Schriftsteller Lobo Antunes in seinem Roman 4 Jahre nach dem Ende dieser Revolution beschrieben hat unter dem Titel „Os Cus de Judas“, d.h. im portugiesischen Idiom „am Arsch der Welt“ oder „gearscht“, „verraten und verkauft“ usw., was in der dt. Übersetzung wortwörtlich vornehmer klingend mit „Der Judaskuss“ übertragen wurde.
Und wenn wir an dieser Stelle die Bestandsaufnahme wenden aus der euphorischen Phase in die Kehrseite und auf die Schattenseite der Revolution des Proletariats in Portugal, wenn wir uns im Augenblick der Wahrheit vor ihm selbst erschrecken lassen angesichts der selbstgestellten ungeheuerlichen Aufgabe des Proletariats als Teil seiner grausam-gründlichen Selbstkritik, so wenden wir uns nun im zweiten Teil unserer PREC-Soirée zu einer scheinbar entgegengesetzten Annäherung in der Revolutions-Analyse. Wir wechseln nun vom Pol der portugiesischen Gesamtgesellschaft vor 40 Jahren auf den scheinbaren Gegenpol der Individuen in demselben Zeitraum und sogar noch weiter zurück zur Genese seiner Konflikte:
Im ersten Teil, also bis jetzt, gingen wir stillschweigend aus von der Kritik der politischen Ökonomie, wenn wir die Klassentrennung und die Klassenkämpfe der damaligen portugiesischen Gesellschaft in den Blick nahmen.
Im zweiten Teil nähern wir uns denselben Phänomenen ausgehend von der Kritik der libidinösen Ökonomie, indem wir nach der Trennung der Geschlechter (sexes wie gender) als Basis der gesellschaftlichen Widersprüche fragen, wobei schnell deutlich werden wird, daß beide Trennungen – die Trennung der gesellschaftlichen Individuen entlang Gesellschaftsklassen und die Trennung des menschlichen Geschlechts in Geschlechterrollen – unablösbar ineinander verschränkt sind, durch jedes Individuum hindurchgehen und nur scheinbar, nur verkehrt sich darstellend eine „unpolitische“ Entgegensetzung von individueller und gesellschaftlicher Geschichte suggerieren können. In Wirklichkeit kann der ästhetische, in diesem Fall von uns gewählte dichterische bzw. literarische Ausdruck der gesellschaftlichen Widersprüche in der Verkörperung miteinander kämpfender Menschen erst die innersten Triebkräfte von Revolution und Konterrevolution spiegeln, d.h. die spektakulären Bilder, in denen eine moderne Gesellschaft ihre Widersprüche unbewußt und mythisch im Massenmaßstab reproduziert, bewußt machen und damit einer praktischen Kritik und Aufhebung nicht nur dieser fixierten Bilder sondern der in ihnen verkehrt festgeschriebenen Widersprüche selber zugänglich machen.


Wenn der Soldat mit der Nelke im Gewehr sich gleichsam als das Emblem, als das bleibende spektakuläre Bild von Hoffnung und Scheitern der „Nelkenrevolution“ und des PREC in einem herausgestellt hat, als die ambivalente Figur der ersehnten „Poder popular“ und als das Menetekel des bewaffneten „Weges zum Sozialismus“, der so oder so als utopischer Mythos vom männlichen Retter in Gestalt des Arbeiters-in-Uniform figuriert,
dann scheint uns der Protagonist des Romanwerks von Lobo Antunes – dem wohl bekanntesten wie anstößigsten portugiesischen Schriftsteller der letzten 40 Jahre — gerade am geeignetsten, um uns von dieser Gestalt abzustoßen. Es ist die Gestalt des vom überkommenen System und von seinem Kolonialkrieg, seiner militärischen Fixierung geprägten und beschädigten, gelähmten Mannes. Gleichsam die Ruine des Conquistadoren.
In diesem seinem ersten Roman – mit dem Lobo Antunes ein aufsehenerregender Durchbruch zur Aufhebung der Vergangenheitsverdrängung gelang – ist der Ich-Erzähler als Militärarzt – wie Lobo Antunes einst selbst – in Angola gewesen:


10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)

[in: „Portugiesische Literatur“ S.510f:]
„Acht Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ‚ist er immer noch in Angola’, d.h., der Krieg steckt in ihm drin, er kriegt die Bilder nicht mehr los. Schmerz, Wut, Verzweiflung über den Krieg und darüber, was der Krieg aus ihm gemacht hat — einen einsamen, verbitterten Zyniker, der unfähig ist, Beziehungen einzugehen –, prägen den ununterbrochenen Monolog des Mannes. Beschrieben werden die gleichen oder ähnliche Symptome der Auswirkungen des Kriegs: die Zerstörung der Ehe- und Familienbeziehungen; die Entmenschlichung der Soldaten; die unmittelbare Verbindung von Sexualität und Krieg:
‚(…) und der Krieg hat uns zu Tieren gemacht, zu grausamen, dummen Tieren, denen man das Töten beigebracht hat, nicht ein freier Zentimeter war an den Kasernenwänden übrig, alles voll mit nackten Frauen, wir onanierten und schossen (…)’
Die Zerstörung der Wertvorstellungen durch die Mißachtung menschlichen Lebens durch den klerikalfaschistischen Staat:
‚Wir waren keine tollwütigen Hunde, als wir herkamen (…)Wir waren keine tollwütigen Hunde vor den zensierten Briefen, den Angriffen, den Hinterhalten, den Minen, dem Mangel an Essen, Tabak und Erfrischungsgetränken, an Streichhölzern, Wasser und Särgen, bevor ein Lastwagen mehr wert war als ein Mensch und bevor ein Mann ganze drei Zeilen Nachricht in der Zeitung wert war, Im Kampf gefallen in der Provinz Angola, wir waren keine tollwütigen Hunde, aber wir waren ein Nichts für diesen Sakristei-Staat, dem wir scheißegal waren (…)’
Alleingelassen mit seinen Deformationen, die man dem Körper der Zurückgekehrten nicht ansieht, mit der Empörung über die eigene Feigheit, ‚daß ich unterwürfig die Gewalt akzeptierte und den Krieg, den die Herren aus Lissabon mir aufgezwungen hatten’, und der Reue, die ihn ‚wie ein gehetztes Tier, das weiß ist vor Scham und Angst’, handlungs- und bewegungsunfähig macht, wendet der Ich-Erzähler seinen Haß gegen die Frauen. Die Frauen der Familie haben ihn dieser feindlichen Welt ausgeliefert, in der Männlichkeit und Soldatentum Synonyme sind, sie hofften, daß der Krieg ihn ‚zum Mann’ mache. Lobo Antunes’ Ich-Erzähler ist unbestritten Opfer des Kriegs – er war aber auch Täter, und er ist nach wie vor Teil des männlichen Systems, in dem er gefangen bleibt.“


ÜBERLEITUNG

Auch in den darauffolgenden Romanen von Lobo Antunes geht es – wie unter einem Zwang geschrieben — immer wieder um Krieg und Kriegsheimkehrer:


10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)

[in: Portugiesische Literatur S.524:]
„Die meisten von ihnen leiden unter posttraumatischem Streßsyndrom, etwa Abílio, der noch jetzt, zehn Jahre nach der Rückkehr aus dem Krieg, von unbekannten Geräuschen aus dem Schlaf hochschreckt, sich wie einst in der grünen Hölle in Angriffsstellung auf den Boden rollt und vor Angst zitternd nach seiner Waffe greifen will. Was ihn weckt, ist Marschmusik und die Radioberichterstattung über die Nelkenrevolution. Sie alle, Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere, schütten ihrem ehemaligen Hauptmann ihr Leben aus, ihr Leben … vor, während und nach der Revolution — so lauten auch die Titel der Unterkapitel des Romans. Heute wissen wir, daß mit dem Hauptmann der reale Kompaniechef und Freund von Lobo Antunes, nämlich Melo Antunes, gemeint ist, dem er seinen Roman O Manual dos Inquisidores von 1996 gewidmet hat.“


ÜBERLEITUNG

Ausgerechnet dieser rechte Sozialdemokrat Melo Antunes war nun gerade die zentrale Schlüsselfigur für die Einleitung der bürgerlich-demokratischen Wende des Militärregimes und der Provisorischen Regierung gewesen, welche die Salamitaktik der „Linken“ zur Konterrevolution im Sommer 1975, mit dem Manifest der „Gruppe der 9“, auch „das Melo Antunes Papier“ genannt, durchsetzte und auf den endgültigen Militärcoup im November 1975 hinsteuerte, um den linksradikalen Flügel um den populären Befehlshaber des COPCON, der Militärregion um Lissabon, Otelo Carvalho für immer auszuschalten sowie die zwischen Sozialdemokraten und Linksradikalen hin- und her-manövrierende PCP für die Konterrevolution der westlichen Allianz gefügiger zu machen. Nicht nur aufgrund der politischen Liebeserklärung des Lobo Antunes für den bürgerlichen Konterrevolutionär Melo Antunes widert uns dieser Schriftsteller aber an, sondern wesentlich aus dem Grund, den einer seiner Bewunderer selber für uns zusammenfasst: wir zitieren den Literaturwissenschaftler Henry Thorau, den wir hier, diesen Fall abschliessend, zitieren:


10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)

[in: „Portugiesische Literatur“ S.528f:]
Der Protagonist der Romane, „die Lobo Antunes in seinem monomanen Mitteilungsdrang und fieberhaften Schreibfuror“ alle 2 Jahre produziert hat, „bleibt im Grunde immer der gleiche, in einer neuen Verkleidung, in Konfrontation mit anderen Figuren aus seinem Lebens-Archiv. Oft glaubt man ihn selbst in der subtilen Rollenprosa weiblicher Figuren zu erkennen. Dem widerspricht nicht, daß Lobo Antunes im Rollentausch (…) komplexe und differenzierte Frauencharaktere gelingen, im Unterschied zur farb- und namenlosen Zuhörerin in Os Cus de Judas. Man könnte sogar sagen, daß er in A Morte de Carlos Gardel das Porträt einer lesbischen Liebe entworfen hat, allerdings, wie so oft bei Lobo Antunes, keine glückliche Beziehung, sondern ein ‚purgatório’. Trotz der versuchten Einfühlung in die weibliche Psyche heißt das noch lange nicht, daß der Autor ein positives Frauenbild hat. Alle politisch korrekten Anstrengungen der Literaturwissenschaft versagen bei dem Versuch zu behaupten, Lobo Antunes hinterfrage machistisches Gebaren romanischer Männer. Man kann sogar sagen: selten sind Frauen in der portugiesischen Literatur so negativ beschrieben worden wie bei Lobo Antunes. Geballter Frauenhaß, ja Gewaltphantasien gegen Frauen, begleitet von einem schockierenden Zynismus, ziehen sich durch alle Romane. Eine Fundgrube für psychoanalytische Literaturwissenschaft.
Wenn also Os Cus de Judas kein Buch über den Angolakrieg ist, wie Lobo Antunes mit allen Anzeichen Freudscher Abwehr behauptet, ist Memória de Elefante vielleicht kein Psychiatrie-Roman, Fado Alexandrino kein Roman über die Revolution (‚Welche Revolution?’ fragte Antunes einmal den Verfasser bei einem Gespräch über den 25.April 1974) …“ – so berichtet Henry Thorau und vermerkt auch, daß Lobo Antunes in einem anderen ‚Interview gesagt hat: „Ich glaube nicht, dass Os Cus de Judas ein Buch über den Kolonialkrieg ist. Es ist ein Buch über die Beziehung zwischen Mann und Frau.“
Henry Thorau diagnostiziert [S. 526f] angesichts Lobo Antunes’ Zyklus über die Macht: „In den Vordergrund schiebt sich immer stärker die Familiensaga – dieser etwas angestaubte Terminus trifft es am sinnfälligsten – (…) und wir fragen uns: wer ist jetzt an der Reihe im Stammbaum der Großfamilie von omnipräsenten und omnipotenten autoritären Vaterfiguren (nach den Professoren, Firmenchefs, Großgrundbesitzern und […] in O Manual dos Inquisidores einem Minister des Diktators Salazar) – die ihren Söhnen und ganzen Generationen das Leben diktieren ? (…) Bei Lobo Antunes steht (…) nicht das Politische im Zentrum, sondern der ‚Familienroman des Neurotikers’ (Freud).“


ÜBERLEITUNG

Wir können also feststellen, dass dieser portugiesische Nobelpreisträgerkandidat alles, was er über Krieg und Revolution in Portugal zeigen kann und tatsächlich aufdeckt, von Anfang bis Ende in Machismo und Sexismus zurückverwandelt – in dieser Wiederverdrängung des wiederkehrenden Verdrängten ist er gewiss der Vorzeigeromancier der portugiesischen Familiensaga der heute noch herrschenden Klassen geworden, sein Zyklus „über die Macht“ behandelt narzisstisch jenen inzwischen demokratisch aufgemöbelten und ins Inventar des „Europäischen Hauses“ aufgenommenen patriarchalischen „Stammbaum der Großfamilie“.

Diesem im Selbsthaß selbstverliebten Kosmos der Herrschaft wollen wir hier die Schriftstellerin Lídia Jorge gegenüberstellen, die heute wahrscheinlich sogar die bekannteste weibliche Stimme der modernen portugiesischen Literatur ist. (Ihr soeben erst erschienener Roman behandelt direkt die „Nelkenrevolution“ und ist leider noch nicht ins Dt. übersetzt worden.)
Lídia Jorge: geboren und aufgewachsen im rückständigen, verarmten Algarve, heiratete zuerst einen Luftwaffenoffizier, mit dem sie 1969/70 in Angola, 1972-74 in Mosambik lebte, dort als Lehrerin arbeitete und mit 27 Jahren während der Nelkenrevolution nach Portugal zurückkehrte. Lídia Jorge erlebte und stellt in ihrem Erzählwerk immer wieder dar, wie diese Revolution vor allem auch die gesellschaftliche Position und Rolle der Frauen veränderte, die von der „Dreieinigkeit Gott/Vaterland/Familie am stärksten unterdrückt“ waren. Schon in ihrem ersten Roman
Der Tag der Wunder ist das Thema vor allem der „Geschlechterkampf“:


10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)

„in Der Tag der Wunder bildet die Revolution des 25. April 1974 den Hintergrund des Romans. (…) Aber Der Tag der Wunder ist noch weit vielschichtiger. Da ist vor allem das Thema Geschlechterkampf in einer Gesellschaft, in der die Männer den anatomischen Unterschied zwischen den Geschlechtern als Mangel der Frau definieren und daraus ihren Herrschaftsanspruch ableiten; wo die Frauen schon bei der Geburt Mitleid mit ihren Töchtern haben; wo eine Frau mit Weitblick ihren zukünftigen Mann daran erkennt, daß er so aussieht ‚wie einer, der mich mein ganzes Leben lang schlagen wird’; wo die Frau auf den häuslichen Bereich beschränkt ist, während der Mann nach draußen geht; und wo die Haupttätigkeit der Frauen aller Generationen im Warten besteht. Ein zentrales Motiv des Romans ist das Aneinandervorbeireden (…) als konsequenter Ausdruck sowohl des Auseinanderklaffens der Lebensbereiche von Mann und Frau als auch der Ungleichzeitigkeit der portugiesischen Gesellschaft zur Zeit der Revolution, des Nebeneinanders der in der Tradition verhafteten dörflichen Gesellschaft und der revolutionären Veränderungen in der Stadt. (…)
Die Dorfbewohner erwarten von den Revolutionären eine Art Jüngstes Gericht, das die Gerechtigkeit auf Erden herstellen soll. Aber als Soldaten mit Pathos von den Idealen der Revolution, der Befreiung der Erniedrigten und Unterdrückten reden, fragen die Dorfbewohner verständnislos: ‚Wer ist denn das ?’
Indem Lídia Jorge den Mikrokosmos des Dorfes zum Schauplatz wählt, wirft sie gleichzeitig Licht auf die Frage, warum die Revolution an der Situation der Landbevölkerung vorbeiging. Deutlich wird die gesellschaftliche Asymmetrie zwischen Dorf- und Stadtbevölkerung, die Unterschiedlichkeit der Lebensbedingungen, die auch unterschiedliche Bewußtseinsstrukturen prägen: ‚In Lissabon. Haben die Leute schon Licht an allen Hauswänden, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Leute brauchen nur so mit dem kleinen Finger zu machen, und alle Instrumente fangen an, ihre Arbeit ganz allein zu machen, als hätten sie Arme. Leute. Die haben bereits eine eigene Stelle, um ihre Notdurft verrichten zu können, ohne den anderen ihre Scham zu zeigen. (…) Leute, die schon alles haben, was wir uns überhaupt nicht vorstellen können. Denn um sich etwas vorstellen zu können, muß man von der Sache etwas gesehen haben. Und Leute von denen da haben den Staatsstreich gemacht.’
Bereits hier zeigt sich der spöttische Blick der Autorin auf das ‚männliche Gehabe’ der Soldaten, der im Roman A Costa dos Murmúrios (1988; dt. Die Küste des Raunens) mit beißender Satire die ’Helden des Kriegs’ bloßstellt: ‚Aber ein Soldat. Der besonders gut gebaut war und zweifellos an einem ganz anderen Ort geboren war. Begann oben auf dem Wagen zu sprechen. (…) Er sagte Dinge. Daß er eine Re-vo-lu-tion gemacht habe und daß sie Mut fassen sollten. Denn alles. Alles. Und er öffnete die Arme wie der Erlöser. Alles würde sich ändern.’ “
Für die Dorfbewohner im Hinterland des Algarve ereignet sich im Tag der Wunder „in Lissabon (…) eine Revolution der ‚Soldaten und hohen Befehlshaber’. Alle Zeichen des Himmels scheinen nun einen Sinn zu haben. Von nun an warten die Einwohner Vilamaninhos auf das erscheinen der Soldaten, die alle Orte Portugals besuchen, um von ihnen die wahre Bedeutung der Zeichen zu erfahren. Aber als die Soldaten endlich kommen, sprechen sie von ganz anderen Dingen als die Dorfbewohner, und sehen sich in ihrer Hoffnung enttäuscht. Nur der Straßenwärter José Maria erkennt: ‚Niemand befreit sich, der sich nicht selbst befreien will’, und zieht die Konsequenz:
‚Ich geh weg (…) Weil, wenn hier eine Schlange springt, alle sagen, sie fliegt. Aber wenn ein Wagen voller Soldaten erscheint, die von der Veränderung der Dinge reden, schauen sie enttäuscht zu Boden. Und sagen. Veränderung ? Was für eine Veränderung ?’ “ (…)


ÜBERLEITUNG

Lídia Jorge setzt sich in ihrem gesamten Schreiben mit der unmittelbaren kolonialistischen Vergangenheit auseinander, aber sie verfällt ihr nicht. Indem sie die Kontinuität, die prägende Kolonialkriegsgeschichte keinen Augenblick von der portugiesischen Revolution trennt, kann sie die Diskontinuität, die Kräfte der Veränderung ebenso wie des Beharrens und des Scheiterns im Prozess der Veränderung erst plausibel erklären und darstellen. 1985 sagte Lídia Jorge in einem Interview: ‚Ich denke, daß ich im Moment in einer Gruppe von noch nicht alten Leuten (im Alter um die 40) schreibe, die einen markanten Moment erlebt haben, den Kolonialkrieg und den Untergang des Regimes.“


10. „Portugiesische Literatur“ (über Lobo Antunes und Lídia Jorge)

„Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialkrieg und der Kolonialgeschichte findet bei Lídia Jorge (in der Erzählung Die Heuschrecken) auf mehreren Ebenen statt. Sie äußert sich direkt in der Denunziation der Massaker und der Gräueltaten des Kriegs, die die Männer nicht als ‚Helden’ zeigt, wozu die Propaganda des Salazar-Regimes sie erhob, sondern entmenschlicht; sie äußert sich in der Desavouierung des Männlichkeitswahns, der mit beißender Ironie der Lächerlichkeit preisgegeben wird, und sie äußert sich in einer kritischen Reflexion der Ich-Erzählerin ‚Eva Lopo’ im Roman Die Küste des Raunens über den offiziellen Sprachgebrauch und die inflationäre Verwendung des Begriffes Krieg. (…) (…) In ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung in verwirft ‚Eva Lopo’ radikal die Erklärungsmuster der traditionellen Geschichtsschreibung, insbesondere wenn sie den ‚unsichtbaren Muskeln’ eine besondere Rolle in der Verknüpfung der historischen Fakten einräumt – ‚Schauplatz der Geschichte(n) sind weiter die Körper’, heißt dies bei Klaus Theweleit [‚Das Land das Ausland heißt’, München 1995, S.9]. ‚Eva’ schildert, wie die Frau des Leutnants Zurique aufgrund einer mangelnden Kaution für die Aufnahme ins Krankenhaus ihr Kind tot gebiert und wie ihr dabei der Schließmuskel reißt. ‚Die Erzählerin konstruiert auf sarkastische Weise eine Beziehung zwischen der verborgenen ‚schändlichen’ Narbe der Frau Zuriques und der ‚phosphoreszierenden’, von Heldentum kündenden Narbe des Hauptmanns Forza Leal’ [so Erich Kalwa 1996]. (…) In die Figur ‚Eva Lopos’ fließen viele autobiographische Erfahrungen Lídia Jorges ein: ‚Afrika ist innerhalb meiner Lebenserfahrungen eine Landkarte der Erinnerungen, die mit dem Schreiben verknüpft sind. (…) Dort habe ich die starken Spannungen eines extrem gewalttätigen Kriegsambientes erlebt, und ich habe die Semantik und Syntax einer Gesellschaft in einer Krisensituation und einer totalen Veränderung verstehen gelernt. (…) Niemals und nirgendwo hätte ich in so kurzer Zeit einen Spiegel, eine Zusammenfassung all dessen finden können, was tiefgreifende soziale Konflikte,Veränderungen von Verhaltensweisen, Zusammenbruch des Imperiums und Gewaltverhältnisse auf allen Ebenen ausmachte.’
Vielleicht ist es nicht zufällig, daß gerade in dem Roman Die Küste des Raunens (1988), der ‚einen markanten Moment’ ihres Lebens und Auslöser für ihr Schreiben behandelt, nämlich den Kolonialkrieg und den darauf folgenden Untergang des faschistischen Regimes, Lídia Jorge die Bedingungen des Schreibens thematisiert. In ihren Reflexionen über die Darstellbarkeit von Wirklichkeit und Geschichte scheint die Erzählerin die Vorstellung, Fiktion könne die historische Wirklichkeit [unmittelbar] wahrheitsgetreu und objektiv darstellen, zu verwerfen. (…) [In einem Gespräch 1992 erklärt sie das Schreiben zu einer bestimmten Art von Forschungsarbeit, sie sagt:] ‚Fiktion ist der Versuch, etwas zu konstruieren (…) Das ist ein vielfältiges Spiel von Interpretationen.’ [Portugiesische Literatur, S.502] (…) Indem sie die Bedingungen befragt, unter denen Literatur die Vergangenheit rekonstruieren kann, zerlegt und reflektiert Lídia Jorge in Die Küste des Raunens die existierenden narrativen Texte über den Kolonialkrieg und schreibt sie um. (…) [Dieser Roman gilt manchen sogar] als bewußte Antwort Lídia Jorges auf Romane über den portugiesischen Kolonialkrieg wie Der Judaskuß (1979) von Lobo Antunes (…) Lídia Jorge schildert den Krieg mit mehr Distanz, sowohl erzähltechnisch — zwanzig Jahre liegen die Kriegserfahrungen der Ich-Erzählerin zurück – als auch emotional. Wer mehr Distanz hat, hat auch ein größeres Blickfeld: ‚Eva Lopo’ zeigt die Strukturen des Gewaltverhältnisses auf, das System der Gewalt, das die Frauen auf den unterschiedlichsten Ebenen als alltägliche Gewalt der Männergesellschaft erfahren. (…) Die Wahrnehmung (…) und die Behandlung der zwischenmenschlichen Beziehungen (…) zieht sich in der Darstellung der Geschlechterbeziehungen wie ein roter Faden durch das ganze Werk von Lídia Jorge, sei es als Geschlechterkampf (in : Der Tag der Wunder und Die Küste des Raunens), sei es in der Thematisierung der psychosozialen Lage der Frau in der nachrevolutionären Männergesellschaft (in: Nachricht von der anderen Seite der Straße) oder in der Denunziation der Objektfunktion der Frau in A última Dona (1992; Die letzte Herrin). (…)
Weibliche und männliche Romanfiguren in Lídia Jorges Werk unterscheiden sich vor allem auch in ihrem Erleben der Zeit und der damit verbundenen Weltsicht. Der Ingenieur ‚Geraldes’ in dem Roman A última Dona glaubt, er könne ‚wie ein besserer Gott’ den Lauf der Zeit anhalten und korrigieren, so wie er den Verlauf der Flüsse korrigieren kann. (…) Der Geschichtsprofessor ‚Milreu’ und der blinde Kavallerist in Die Küste des Raunens vertreten einen absoluten Zeitbegriff, der den Ewigkeitsanspruch des portugiesischen Imperiums stützt. Die weibliche Protagonistin ‚Eva Lopos’ vertritt dagegen (…) die Theorie der Gleichzeitigkeit. Im Werk der Schriftstellerin entspricht dieser Theorie erzähltechnisch ein synchrones Mit- und Nebeneinander unterschiedlicher Stimmen oder verschiedener Episoden, die ein vielfältig fragmentiertes synoptisches Bild der Wirklichkeit ergeben. Der Handlungsverlauf ist nicht geradlinig und geschlossen, sondern vielfältig verschränkt. Die Konzentration auf einen Ort, die in fast allen von Lídia Jorges Romanen zu finden ist, dient dabei der Verbindung und Verdichtung des Geschehens. Das Thema der Erinnerung findet seine Entsprechung auf der narrativen Ebene darin, daß das eigentliche Geschehen schon abgeschlossen ist, bevor die Erzählung einsetzt und die Romanfiguren sich erinnern und berichten. (…) Der Erzählvorgang ist also immer Reflexion einer Handlung, die schon stattgefunden hat, auch wenn die Autorin uns dies durch ihre Erzählung vergessen macht. Durch ein Spiel mit Andeutungen und verdeckten Motiven erreicht sie so eine fast kriminalistische Spannung, indem die Erzählung nach und nach mehr an Hintergründen enthüllt.
In vielen ihrer Romane finden sich direkte Bezugnahmen auf den Film, und Lídia Jorges Schreiben selbst hat kinematographische Züge: die Reihung der Bilder, die Schnitte und die Wahrnehmung der Details wie mit dem Kameraauge.“


ÜBERLEITUNG

Das Kamera-Auge und eine Handlung, die schon stattgefunden hat und die völlig vergessen scheint: Wir zoomen an dieser Stelle mit ein paar Filmaufnahmen an einen Ort, die Textilfabrik in Sogantal 1974, wo die Arbeiterinnen mitten im Hochgefühl ihres Aufbruchs aus der Geschlechter- und Klassenhierarchie zu sehen sind.

DAZU DER ERLÄUTERNDE HINWEIS VON CHARLES REEVE:
„Eine junge frz. Cineastin hat kürzlich einen Film gemacht über einen der radikalen Kämpfe der revolutionären Periode: bei Sogantal, einem Textilunternehmen. Nach der Flucht des (französischen) Fabrikherrn hatten die jungen Arbeiterinnen das Werk besetzt und versucht, es in Selbstverwaltung am Funktionieren zu halten. Mit Erstaunen deckt die Filmemacherin an demselben Ort, wo sich dieses Ereignis abspielte, auf, dass die Erinnerung daran weg ist. Montijo, eine Arbeitersiedlung auf der Lissabon gegenüberliegenden Seite des Flusses Tage, ist heute eine Wählerhochburg der PCP , und die Erinnerung, das Gedächtnis an diesen großen Selbstverwaltungsstreik ist ganz einfach ausgelöscht worden von der Propaganda der Gewerkschaft und Partei. Auf diese Weise „dekonstruieren“ also die bürokratischen Institutionen die Geschichte gemäß ihren Interessen. Es handelt sich nicht um die Abwesenheit des Gedächtnisses jener Streiks und Bewegungen, die von dem revolutionären Syndikalismus von 1912 oder 1920 geführt wurden … — sondern um einen Kampf, der sich vor kaum 40 Jahren abgespielt hat und dessen Protagonistinnen immer noch an diesem Ort leben!“


11. Ausschnitt aus dem Film „Nous ouvrières de la Sogantal“

http://www.dailymotion.com/video/x2k0m8y


ÜBERLEITUNG

Zwei Jahre vor dem Militärcoup der Männer, der Hauptmänner, vom 25.April 1974 hatten bereits in dem klerikalfaschistischen portugiesischen Gehäuse ein paar Frauen mit einer poetischen Revolte den Angriff eröffnet: 3 mutige Schriftstellerinnen machten 1971/72 das patriarchalistisch-bürgerliche Syndrom in einer Weise sichtbar, die augenblicklich zu einem Skandal in Portugal führte. Das waren „die 3 Marias“ (M. Isabel Barreno, M.Teresa Horta, M.Velho da Costa) mit ihrem Buch „Neue Portugiesische Briefe“. Darin wurde mit visionärer poetischer Bildlichkeit sogar schon – im Nachhinein frappierend – das phallische Emblem der Nelke im Gewehrlauf erkennbar vorweggenommen – wo es z.B. in einem diesem Briefwechsel-Roman-Essay einmontierten Gedicht heisst:

„Offen dargelegt ist das männliche Geschlecht
Und trägt oben eine Blume“

Im ersten der „Neuen Briefe“ aber hiess es:


12. „Neue portugiesische Briefe“

Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta & Maria Velho da Costa [= „Die drei
Marias“]: Neue Portugiesische Briefe. (Oder wie Maina Mendes beide Hände auf den
Körper legte und den übrigen legitimen Oberen einen Tritt in den Hintern versetzte).
Berlin / Frankfurt a.M. / Wien 1977.

„Zerbrechlich sind jedoch die Männer in ihren Sehnsüchten, ihren Ängsten, ihren Gebeten, ihrer Übermacht, so vorgetäuscht sie auch sein mag. Zerbrechlich sind die Männer dieses Landes mit seinen immergleichen Sehnsüchten, mit seinen Ängsten und seinen Entmutigungen. Zerbrechlichkeit ist in allen ihren Versuchen, sich zu verkleiden: ob sie nun auf den öffentlichen Plätzen Stierkämpfe abhalten, zum Beispiel, oder ob sie Rennwagen fahren, oder ob sie sich schlagen. O mein Portugal mit seinen Männchen, die ihre Impotenz verschleiern, Zuchttiere, Beschälhengste, so schlechte Liebhaber, so eilig im Bett, wo sie nur daran denken, ihren Schwanz zu zeigen. Wir sind härter, grausamer, strenger. – Deshalb werden sie uns Lesbierinnen nennen […]. Wir brauchen Männer, aber nicht solche.“)


ÜBERLEITUNG

Dieser feministische Vorstoß zu einer sarkastischen Kritik der libidinösen Ökonomie des Patriarchats wurde prompt vom Caetano-Regime mit Verbot und Beschlagnahmung durch die politische Polizei beantwortet, die 3 Autorinnen wurden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und Verstoßes gegen die guten Sitten angeklagt:


12. „Neue portugiesische Briefe“

(AUS DEM NACHWORT ZUR Dt. AUSGABE 1976 VON „NEUE PORTUGIESISCHE BRIEFE“, geschrieben von Elfriede Engelmayer während des „Heißen Herbstes“ in Portugal 1995):
„Es beginnt ein Prozess, der erst im Mai 1974 mit dem Freispruch aller Angeklagten enden wird.“
„Zahlreiche Persönlichkeiten des literarischen und intellektuellen Lebens hatten in Zeugenaussagen dem inkriminierten Werk hohe literarische Qualität bescheinigt und den Vorwurf der Pornografie zurückgewiesen. Wiederholt wurde ausgesprochen, was auf der Hand lag: den Autorinnen sollte ein politischer Prozess gemacht werden. Sie hatten es gewagt, die Fundamente des patriarchalischen Staates anzugreifen. Ihr genialer Rückgriff auf den Nationalmythos Mariana Alcoforado, der an ihrer Liebe leidenden, im Kloster von Beja eingeschlossenen Nonne, die Umfunktionalisierung dieses Mythos, nämlich seine Historisierung, demontierte die Ideologie von der passiven, subalternen Frau. Fraglos verstießen sie gegen die guten Sitten: sie zeigten die herrschende Doppelmoral auf, und das in einer direkten, unverbrämten Sprache. (…)
Da die Zensur in Portugal um den Prozess eine Mauer des Schweigens errichtet hatte, mußten interessierte PortugiesInnen zu ausländischen Zeitungen greifen, wollten sie Näheres über dessen Verlauf erfahren. Solidaritätsadressen an die drei Schriftstellerinnen gingen aus zahlreichen Ländern ein. (…)
So gelangten die ‚Neuen Portugiesischen Briefe’ und ihre Autorinnen noch vor der Publikation der diversen Übersetzungen zu großer Anerkennung und Bekanntheit außerhalb Portugals, ein Ruhm, der sich später durch die dem Revolutionsprozess entgegengebrachten Sympathien noch vergrößerte. Zu Recht sah die Neue Frauenbewegung in den ‚Neuen Portugiesischen Briefen’ einen emblematischen Text von weltweiter Gültigkeit.“


ÜBERLEITUNG

Die portugiesische Vergangenheit aktualisierend, setzen die 3 Marias am Schicksal ihrer geknechteten Vorfahrinnen an, sie lassen in der lyrischen Sprache der legendären Nonne Maria Alcoforado aus dem 17.Jahrhundert das Gespenst der blutbefleckten Nonne klagen:


12. „Neue portugiesische Briefe“

(Aus: „Die blutbefleckte Nonne“):
–– Mutter Äbtissin, hier schickt man mich vom Haus meiner Eltern.
–– Es gab kein Brot am Tisch der Menschen.
Unser unnützer Leib wurde dem Herrn geweiht.
Im Hause des Herrn werden wir essen.
Im Hause des Herrn werden wir schlafen.
–– Mutter Äbtissin, was soll aus uns werden ohne Leib
Noch Ritter?
–– Unsere Leidenschaft ist der Herr, unsere Übung
Das Paradies, unser Gegenstand ist die Welt.
Wir werden Nonnen im Kloster sein.
(…)
–– Es gab kein Brot für uns am Tisch der Menschen.
Unser fruchtbarer Leib wurde dem Ritter vermählt.
Im Hause des Ritters werden wir essen.
Im Hause des Ritters werden wir schlafen.
–– Mutter Äbtissin, was soll aus uns werden ohne Leib
Aber mit einem Ritter?
–– Wir sind ein Obstgarten von besonderer Güte, ein Reittier
Für seine leeren Kämpfe, eine billige Arbeitskraft.
Unsere Leidenschaft ist die Welt, unsere Übung
Ihre Kinder, unser Gegenstand ist der Ritter.
Wir werden zur Ehe gegeben werden.


ÜBERLEITUNG

Und als ein lyrischer Refrain der Anklage lässt es die Stimmen jener sogenannten „Hexen“ und „dämonischen Frauen“, die weder im Gefängnis dieser Ehe noch des Klosters sich einmauern liessen, durch die Jahrhunderte wiederkehren:


12. „Neue portugiesische Briefe“

–– Es gab kein Brot für uns am Tisch der Menschen. Unsere Körper vermieten wir an die Ritter. Mit dem Geld der Ritter werden wir essen. Auf dem Mist, der übrigbleibt, werden wir schlafen.
–– Mutter Äbtissin, was soll aus uns werden, mit einem Leib
Aber ohne Ritter?
–– Unfruchtbare Erde, Reittier
Für seine leeren Kämpfe
Billige Arbeitskraft, wenn du deinen Körper vermietest
Sagen sie: „Warum vermietest du nicht deine Arbeitskraft?“ und wenn
Du deine Arbeitskraft vermietest, sagen sie: „Warum vermietest du nicht
Deinen Körper?“ Unsere Leidenschaft ist das Brot, unsere
Übung ist die Welt, unser Gegenstand
Die Herren der Arbeiterinnen und der Prostituierten.

(…) Ohne Herren noch Ritter gibt es weder
Bordelle noch Klöster. Die Männer
Werden unterteilt in Männer
Und in Herren. Aber für die Frauen sind alle Männer
Herren.
(…) Kein Haus
gehört uns. Keiner ist unser Bruder oder unsere Schwester. Für die Brüderlichkeit
Haben wir nur das Kloster Solidarisch mit uns
Ist niemand, wir sind in uns selbst Verheiratete und Verkaufte.


ÜBERLEITUNG

Doch auch mit der Hoffnung der angeblich vom Teufel besessenen Frauen heisst es da:


12. „Neue portugiesische Briefe“

Die Grundfesten des Klosters werden erzittern.


ÜBERLEITUNG

Und der letzte jener Briefe aus dem Kloster schließt – erdichtet am 30.3.1971 – mit den Worten:

Ruf mich nicht Schwester, bevor eine andre Welt kommt
Um neue Klöster zu verhindern. In den Trümmern
Werden wir Brüder finden. Jene, die nichts verloren haben
Und die nicht zermalmt wurden, da sie keine
Häuser hatten. Doch bleiben wir wachsam, weil unsere Brüder uns
Vielleicht sagen: „Ihr habt die Bürger gemacht
Jetzt ist die Stadt unser.“
Dreimal werden unsere Brüder uns verraten: durch unser Brot, durch unseren Leib
Und durch unsere Stadt. Ritter, bewaffne mich nicht
Mit deinen Ängsten. Wir würden unsere Trümmer wieder an uns nehmen
Unsere alten Gespenster. Wir werden zur Wurzel
Unserer Angst zurückkehren, allein, bis wir sagen:
„Unsere Söhne sind Söhne, sind Personen und nicht Die Phalli unserer Männer.“ Wir werden Kinder Kinder nennen
Frauen Frauen und Männer Männer. Wir werden einen Dichter rufen
Die Stadt zu regieren. Soll er den Demiurg ersetzen
Der zyklopischen Arbeiten.


ÜBERLEITUNG

Dieses von einer der drei Marias Erdichtete und vom am 30.3.1971 verschmilzt die Stimmen aus dem patriarchalischen Kerker des alten und des modernen Portugal so visionär anmutend, als ob der Dichter der portugiesischen Revolution, der anarcho-kommunistische Sänger José Afonso, direkt daraufhin jenes Lied gemacht hätte, das im April 1974 zur unvergesslichen Hymne der Revolution werden sollte: „Grândola“ … Stadt der Freiheit, der Gleichheit, der Geschwisterlichkeit …
Und so argumentiert in einem 3. Brief der neuen Maria Selbdritt die moderne Frau aus dem Beginn der 1970er Jahre im portugiesischen patriarchalistisch-kapitalistischen morschen Kerker mit der aufbrechenden, sprengenden Perspektive auf die sonnenerfüllte „Stadt der Zukunft“. Wir können an diesem Abend heute unglücklicherweise nur eine splitterhafte Textprobe geben, um diese visionäre poetische Kraft anzudeuten, der es gelang, die unterirdisch wühlende oder auch nur keimende Vereinigung von Kritik der Geschichte als Kritik der libidinösen Ökonomie und Kritik der politischen Ökonomie, dieser beiden Dimensionen der Ausbeutung und der Trennung von Menschen durch Menschen, zum Skandal zu machen, sie zum Durchbruch, an die Oberfläche, an die Öffentlichkeit der Klassen-und Geschlechtertrennungsgesellschaft zu bringen:


12. „Neue portugiesische Briefe“

(Aus: Neue Portugiesische Briefe, „Dritter Brief IV“):

(…) es bleibt noch ein großes Feld umzugraben und umzustürzen, aber nicht durch das geschriebene Wort (…)
Es ist unvermeidlich, daß wir von der Liebe zur Geschichte übergehen, zur Politik und zu den Mythen, welche die historischen und die politischen Umstände stützen.
Du hast gefragt: „Ist das, was du vorschlägst, ein Pakt mit dem Teufel?“ Und diese Frage kam nicht von ungefähr –– wir wahren Distanzen, wir beurteilen uns, es sind unsere schlimmsten Befürchtungen, die uns mit dem verbinden, was wir ablehnen –– wie es auch kein Zufall ist, daß der Teufel ein schwarzer oder rozter Mann ist oder daß er, im Wörterbuch der Hexerei, weibliche Gestalt annimmt; der Teufel ist der Engel, der gefallen ist, weil er die oben festgelegte Ordnung bedroht hat.So kommen wir zu den Mythen der historischen und poliztischen Umstände, weil es uns noch nicht möglich ist, von Liebe zu sprechen; weil sich in die Beziehung zu zweit, wo sich Mann und Frau allein und in ihren Geschlechtern wähnen, das einmischt, was die Gesellschaft tut und von jedem von uns verlangt; weil die Beziehung zu zweit, und das geht nicht nur die Ehe an, die politische Grundlage des Modells der Unterdrückung ist; weil, wenn eine Frau und ein Mann sich allein und in ihren Geschlechtern haben wollen, dies sofort als Angriff auf die Gesellschaft verstanden wird, die nur eint, um zu beherrschen, so wird Abälard kastriert, Tristan vereinigt sich nie mit Isolde, und alle Mythen der Liebe stellen diese als verhindert und nicht vollzogen dar, und alle Liebesgeschichten sind Geschichten von Selbstmorden; weil wir den Verlauf dr Beherrschung zurückverfolgen müssen, die historischen Umstände abbauen müssen, um ihre wurzeln zu zerstören. Ich will damit sagen, daß es nicht genügt, in Beziehungen zur erzeugung zu denken, wo die Frau in gesellschaftlicher Hinsicht die Erzeugerin von Kindern ist und ihzre arbeitskraft dem Mann-Herrn verkauft. Das ist eine genaue und sehr notwendige, aber unvollständige Darstellung der Wirklichkeit; notwendig, um den Urgrund dieser Frage richtig zu erfassen und vielleicht bis zu ihrem historischen Ursprung zurückzugehen, den man um jeden Preis unterschlagen will, wenn man die Förderung der Frazu ausposaunt. Dieser Darstellung muß man noch alle Systeme kultureller Kristallisationen hinzufügen, welche die Beherrschung der Frau (und nicht nur deren Beherrschung) stützen, verstärken, rechtfertigen und erweitern, denn die Veränderung der wirtschaftlichen und politischen Situation, die sich gegenwärtig auf sie gründet, bringt nicht notwendigerweise die Zerstörung aller kulturellen Kristallisationen mit sich, in denen die Frau juristisch ein Idiot, sozial verantwortungslos, ein kastrierter Mensch, Fleisch, Sünderin, Eva mit der Schlange, Körper ohne Seele, Jungfrau-Mutter, Hexe, aufopfernde Mutter, Vampir des Mannes, gute Fee des heimischen Herdes, stupides und sich seines Geschlechts schämendes menschliches Wesen, zugleich Hure und Engel usw. usw. ist. Und ich sage „ist“, in der Gegenwart, denn es hat niemals einen Kampf gegeben, der diese Bilder an der Wurzel angegriffen hätte; mit Mühe und Not hat man die logischen und praktischen Folgen von einigen derselben in Frage gestellt, in dem Maße, in dem sie dem Mann nicht mehr entsprechen oder ihm nicht dienlich sind, aber diese Infragestellung mist gemäßigt: „Komm, komm, übertreiben wir nicht, weder nach der einen noch nach der anderen Seite …“ Und ich frage mich, ich habe schon davon gesprochen, ob die Guerillakaämpferin, die Seite an Seite mit ihren Brüdern kämpft, wenn sie als Guerillakämpferin und nicht als Kinderproduzentin ihre Wiedergeburt im Blut erlebt, ich frage mich, ob sie keine Angst vor der Zukunft hat und ihren wahren Brüdern nahe ist, oder ob in diesen noch die Wurzel des Verrats lebt, im Dialog des gegenwärtigen Kampfes und in der Stadt der Zukunft; was ist der Sinn der Freiheit oder des Überlebens, für das sie kämpft, wenn sie weiterhin das Geschlecht zweiter Klasse bleibt, im Schatten der Kultur des Mannes, gezwungen zu den Diensten zur Erhaltung des Mannes, letztes Gefäß der Frustrationen des Mannes, für den sogar die Erotik, sein fiktives Banner der Ausschweifung, eine Aggression gegen die Frau ist. Und das alles erwidere ich dem, der behauptet, das Frauenproblem sei kleinbürgerlich, bourgeoisen Ursprungs, und der vergißt, daß sich das Bürgertum auf einem Boden eingerichtet hat, der schon mit dem Schweiß der Frau gedüngt war (…)
Wenn die Wirtschaft und die Politik zäh sind –– nach den Kapitalismen, den Kolonialismen und den Sozialismen kommen noch alle Neos und alle Revisionismen, und solange es keine Maschinen zum Kindermachen gibt, ist es die Frau, die sie macht, und das Problem wird nicht nur das des Vorarbeiters und des Arbeiutgebers sein sondern das einer Gesellschaft, die auf der Bedeutung der Arbeit und dessen, der sie macht, aufgebaut ist –– , wenn die Wirtschaft und die Politik zäh sind, so so ist alles, was sie stützt, es noch viel mehr. Kehren wir wieder zur ungeordneten Aufzählung der kristallisierten Gesichter der Frau zurück; erst wenn wir imstande sein werden, sie nach Achsen, nach Vektoren aufzureihen, erst dann können wir die Weite und Tiefe dessen sehen, was uns alle lähmt, Frauen und Männer. (…)
Unsere Ängste, unsere Diktaturen und die demiurgischen Bildnisse unserer Gebieter reichen weit in die Vergangenheit zurück. Auf dieser ganzen Linie, die ich skizziert habe, vermischen und mythisieren sich unsere Politik, unsere Ethik, unsere Lieben zu zweit. Unsere Lieben zu zweit, wo die Männer von diesem langen Ritt zu uns kommen, in ihrem gegenwärtigen sozialen Image, Zerstörer, die ein Vakuum um sich herum herstellen, die sich immer gegen jemanden oder gegen etwas stark machen, aufgerichtet, nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft, die sie gegeneinander stößt, immer blind und immer allein in ihrem Selbstgespräch vor uns, das sie an die Stelle des Zwiegesprächs setzen, das mit uns unmöglich ist; und ihre Leere sagt uns „meine Wurzel von allem“ (…)
Wird einmal die Zeit der Liebe kommen, da sich zwei Menschen lieben, ohne an ihren gegenseitigen Gebrauch oder Nutzen zu denken, und nur das Vergnügen suchen, nur die Wonne, zu geben und zu empfangen? (…)


ÜBERLEITUNG

Dieser poetischen Prosa wird also 1972 als „pornografisch“ der Prozess gemacht von der alten Ordnung, einer Geschlechterordnung, die bis heute in ihrer Libido-Ökonomie nicht unterscheiden kann zwischen Liebe und Sexualisierung, weil sie zwischen Liebe, von der sie nichts weiss, und Sexualität, die sie als Ausbeutung gegen alles Erotische verkehrt, überhaupt nicht unterscheiden kann und gleichzeitig beide fortgesetzt brutal auseinanderreisst und gegeneinander verkehrt. Als sich um 1970 in der westlichen Welt die Sexualisierung der Frau als kapitalistische Rekuperation / Besetzung der sogenannten „sexuellen Revolution“ schon durchgesetzt hatte, sollten im klerikalfaschistischen Portugal die Frauen heuchlerischerweise noch immer entsexualisert und auf Gebärmaschinen reduziert werden, sodass die neue Maria ihren 3.Brief an die Schwestern so beschloss:
EINLESEN:
(…) es zählt auch, zumindest in unsren tiefen Befürchtungen, den unseren und denen der anderen, das, was die Geselschaft an Verwirrendem und Zweideutigem in den Beziehungen zwischen Frauen kultiviert. Sie kommen nur zusammen, um sich zu unterhalten und über das zu schwätzen, was sie betrübt oder was gegen sie opponiert, aber nie, um aufzubauen; sie versammeln sich in einer Art, daß eine einzige Schildwache genügt, um sie zu kontrollieren, und die Gesellschaft kultiviert das Zweideutige, das Angst macht und das die Freundschaft zwischen Frauen schreckt und stützt –– zwei Männer küssen sich nicht, zwei Frauen tun es ––, eine Freundschaft, die ein wenig das kompensiert, was ihnen sonst verwehrt ist, eine leichte und naive Freundschaft, Konfidenzen, gewiß, aber nichts, was Folgen oder Weiterungen haben könnte, denn in der Gesellschaft, und nur durch sie, ist die Frau entsexualisiert.
Und dieser Umweg über die Liebe zur Geschichte und zur Politik führt uns dahin, uns über das zu fragen, auf das sich unser Meinungsaustausch gründet; denn wenn wir das tun, räumen wir aus, was wir an Erschreckendem für uns selbst haben –– und warum nicht ein „Pakt mit dem Teufel“, wenn er entsakralisiert, entmystifiziert wird, wenn wir wissen, „welchen Teufel wir am Schwanz packen“? –– , und untersuchen, was uns die anderem an Schrecklichem, an Ungeheuerlichem, an Zweideutigem zuschreiben. (Ja, denken wir nur daran, daß heute ein extremistischer Schearzer schon respektabel ist, während man eine Frauenrechtlerin weiterhin schmäht, sie erschreckend findet, weil sie noch indiskutabel ist, lästig, lächerlich, auch für die wohlgesonnenen Verfechter einer jeglichen Befreiung.) Vielleicht ist hier der erste Schritt zu tun, um unsere historischen und politischen Bedingungen abzubauen.“


ABSCHLIESSENDE WORTE

Die Neue Maria Selbdritt greift hier –– ihren Brief datierend auf den 6.4.1971 –– trotz des uns Heutige eher befremdenden naiven Differenzfeminismus und entsprechenden [heteristischen] Sexualkitsches schon voraus auf die echten Probleme des späteren gender-Feminismus, der queerness-Bewegung und dessen, was im Kampf gegen Rassismus und Sexismus als „Critical Whiteness“ thematisiert werden wird; den Anstoß gibt damals überdeutlich der antikolonialistische Befreiungskrieg in Afrika.
Wir wenden uns nun direkt dem — damals eben noch so dringlich notwendig gleichheitsfeministischen — Schritt der Emanzipation zu, den die Frauenbewegung in Portugal zunächst auf der ökonomisch-politischen Ebene und im ganzen Alltagsleben 1974-75 zu erkämpfen begann.
In ihrer Einleitung hatten die 3Marias am 1.3.1971 geschlossen:

„Nur aus Rache wollen wir einen Oktober machen, einen Mai und einen neuen Monat, um den Kalender zu vervollständigen. Und aus uns, was werden wir aus uns machen?“

Nach dem Blick auf den Oktober 1917, auf den Mai 1968 vervollständigten die Rächerinnen im Jahr 1974 den Kalender am 30.4., indem sie die Bewegung zur Befreiung der Frau(en) gründeten, portugiesisch: Movimento de Libertacao das Mulheres, Abkürzung MLM (mé lé mé).
Wir hören zunächst die Anfänge dieser Frauenselbstorganisation und ihre eigenen Berichte von diesem Aufbruch und einer denkwürdigen ersten Demonstration im Januar 1975 in Lissabon, und sehen dann ein historisches Video von diesem Ereignis.


13. „Sexismus in Revolution und Konterrevolution“

Stellungnahmen & Flugblätter des Movimento de Libertação das Mulheres
[MLM]. In: Sexismus in Revolution und Konterrevolution. Portugal,
Tupamaros, Chile. Haarlem / Westberlin 1975.

[aus: MLM 1975, S.7f : „Die Anfänge der Bewegung in Portugal“:]
Frauen der MLM (movimento da libertacao das mulheres, in der Abkürzung ausgesprochen: Mé Lé Mé) schildern in einem Interview in der Zeitung Liberdade vom 24. Januar 1975 die Anfänge ihrer Bewegung:
„Als erstes betonen wir – es ist wichtig, daß die Leute es wissen –, daß die MLM keiner bestimmten politischen Gruppe oder Partei angeschlossen ist.
Es hat in Portugal immer Feministinnen gegeben. Helena Guimaraes, für die wir eine große Bewunderung hegen, versteht sich schon seit mehreren Jahren als solche. Sie ist sehr lange Zeit und mit vorbildlichem Mut eine der wenigen feministischen Stimmen in diesem Land gewesen. Schon gegen Anfang des Jahrhunderts wurden mehrere Zeitschriften gegründet, die von Suffragetten herausgegeben wurden. Helena Guimaraes z.B. hat einen beachtlichen Beitrag zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches geleistet: es wurde zwar nicht so abgeändert, wie sie es wünschte, jedoch in manchen Punkten verbessert.
Wir vergessen ebensowenig, daß die portugiesischen Frauen nur dank diesen Suffragetten wenigstens das Wahlrecht erworben haben.
Während der letzten fünfzig Jahre ist nichts oder fast nichts gemacht worden. Zwar existierten die Feministinnen weiter und gaben verschiedene Bücher und Zeitschriften heraus, aber ihre Aktionen waren meistens uneinheitlichund ohne Kontinuität.
Die erste Feministin, die ich kennenlernte, – sagt uns María Teresa Horta – war Isabel Barreno. Diese zufällige Begegnung, im Jahr 1970, war für mich der erste wirklich feministische Kontakt – in der heutigen Bedeutung des Wortes. Isabel Barreno warschon Mitglied einer Gruppe, der auch María Velho da Costa angehörte und die sich mit der Frauenproblematik beschäftigte. Alles das findet vor den ‚Neuen Portugiesischen Briefen’ statt. Im Verlauf dieser achtzehn Monate, in denen diese Briefe geschrieben wurden, kam uns zum ersten Mal der Gedanke, eine feministische Gruppe zu gründen. Das Projekt wurde vertagt, da wir die zwei Sachen nicht gleichzeitig betreiben konnten.

Als das Buch fertig war, hat sich der erste feministische Kern gebildet, der sehr schnell eine bestimmte Anzahl Frauen, wie Lourdes Feria, Margarida Baltazar, Manuela und manche anderen zusammengebracht hat.
Der Beginn des gerichtlichen Vorgehens gegen die ‚Neuen Briefe’, von denen wir uns vorgestellt hatten, daß sie als Katalysator für die unzufriedenen, ärgerlichen und sich ihrer Lage als Kolonisierte bewußten Frauen dienen würden, hat sich als sehr enttäuschend erwiesen. Während in Paris und in mehreren anderen Städten Europas vor den portugiesischen Botschaften Protestdemonstrationen stattfanden, die von Tausenden von Frauen organisiert wurden, hat sich hier keine Frau gemeldet, keine Solidaritätsdemonstration hat stattgefunden, als ob dieses Problem die portugiesischen Frauen in keiner Weise betreffen würde.
Trotz allem ist die Anzahl der Frauen, die an der Situation, die sie unterdrückt, etwas verändern wollen, allmählich gestiegen. Als nach dem 25. April [1974] das Urteil, das uns freisprach, öffentlich bekanntgegeben wurde, war der Gerichtssaal voll von Frauen. Das war am 3. Mai. Ein paar Tage später – am 7. Mai – fand das erste feministische Treffen mit neun intellektuellen Frauen statt.
Bei der zweiten Versammlung, acht Tage später, waren 22 Frauen anwesend. Bei der dritten waren es 50, und seitdem ist ihre Zahl ständig gestiegen. Viele Frauen kamen, um über ihre Probleme zu sprechen, die zum ersten Mal nicht als nebensächlich betrachtet wurden.
Unmittelbar nach den 25. April, als alle so begeistert waren, wurden die feministischen Gedanken nicht angegriffen. Die Frauen konnten ohne Probleme feministisch sein … Aber die Repression ließ nicht lange auf sich warten. Die Ehemänner fingen an zu sagen, ‚Geh da nicht hin’, und auf unseren Arbeitsstellen das Gekicher, die faulen Witze von der Art ‚Alles Huren’ …, ‚Lesben’ …
In diesem Moment hat der wirkliche Kampf begonnen. Wir haben vor dem Palast Foz eine Demonstration gemacht, um Räume zu bekommen. Wir wurden von Militärs in einer ironischen Art empfangen: ‚Sie sind aber hübsch, die armen Kleinen; so entzückend …’
Sie sagten uns, daß für die Junta (es gab noch keine Regierung) die Probleme der Frauen sich nicht von anderen Problemen unterscheiden würden, und daß unsere Bewegung sektiererisch sei ! … Der militärische Verantwortliche, der uns empfing, sagte uns verständnisvoll, daß wir keine Befürchtungen haben sollten; daß unsere Probleme wie alle anderen gelöst werden würden. Wir haben uns bedankt und haben ihm gesagt, daß es nicht das sei, was wir wollten.
Wir, und nur wir allein, könnten unsere Proleme lösen.
In Wirklichkeit aber hatten wir keine Räume, und wir haben noch immer keine.
Demzufolge begabn wir uns in der ersten Maihälfte zum Palast von Belèm [dem Sitz der Regierung] und taten schriftlich und mündlich kund, was wir wollten. Außerdem haben wir die Abschaffung der ‚Nationalen Weiblichen Bewegung’ [Frauenorganisation des faschistischen Salazar-Regimes] verlangt.
Die Reaktion der Leute auf diese Demonstrationen waren sehr verschieden: die Männer waren ironisch, die Frauen aus dem Volk haben im allgemeinen sehr gut reagiert. Sie sind mit uns gezogen, um vor dem Palast Foz zu demonstrieren. Was die vorbeigehenden bürgerlichen Frauen betrifft: sie betrachteten uns als Verrückte.
[S.11f: „Das Treffen der ‚Hausfrauen’“:]
Wir haben letztes Jahr eine Versammlung mit ‚Hausfrauen’ abgehalten. Mehr als 400 Frauen jeglicher Herkunft sind da zusammengetroffen.
Alle haben sich über den Mangel an Bildung beklagt – manche konnten weder lesen noch schreiben, viele waren nicht über die ersten Vorschulklassen hinausgekommen. Es war das erste Mal, daß sie übr sich reden konnten.
Aber oft ist es schwierig für sie, weg zu gehen. Sie werden zu Hause festgehalten, können abends nicht zu Versammlungen, weil ihre Männer sie daran hindern; nachmittags müssen sie sich um die Kinder kümmern, und vormittags muß saubergemacht und das Mittagessen vorbereitet werden. Jegliche Infrastrukturen, alle sozialen Einrichtungen fehlen; es gibt keine Kinderkrippen, es gibt garnichts … Sie können nie zu den Versammlungen oder zu den Arbeitsgruppen kommen.
Die erste Arbeit, die es zu leisten gilt, ist eine Arbeit von Bewußtseinsbildung. Die Frauen werden an den Rand der Gesellschaft gestellt. Ihre Probleme sind grundlegend – kein Land, keine Gesellschaft kann daran denken, vorwärts zu kommen, solange sie sich nicht daran gemacht hat, sie zu lösen.
[S.12f:] Ein von der MLM verteiltes Flugblatt forderte unter dem Titel „Achtung, Arbeiterfrauen!“:
„ ‚Gleicher Lohn für gleiche Arbeit’
sagt das Gesetz, aber in der Praxis sieht es manchmal anders aus.
Heute, wo alle im Namen der Gerechtigkeit sprechen, kann man dennoch eine ziemliche Zurückhaltung bei unseren Kollegen und unseren Arbeitgebern bemerken, was die Lohngleichheit angeht. Wir Frauen müssen die praktische Durchsetzung dieses Gesetzes verlangen und gegen diese Haltung (die leider von vielen von uns hingenommen wird) kämpfen, die dazu neigt, unsere Arbeit als minderwertiger gegenüber der des Mannes anzusehen.
Wir können – konkreter – den Fall der Brauerei von Via Longa und der Supermärkte Pao de Acucar zitieren.
Im ersten Fall wurde uns mitgeteilt, daß die Arbeiter, als der Minimallohn einmal bewilligt war (der gleiche für die Männer und die Frauen), daran Anstoß nahmen. Sie haben sofort eine Lohnerhöhung verlangt, um ihre überlegene Stellung wiederzuerlangen.
Wenn es nicht die Unternehmer sind, die uns ausbeuten, sind es unsere eigenen Kameraden, die diese Ausbeutung aufrechterhalten.
Ebenso haben die Angestellten der Supermärkte die Lohngleichheit abgelehnt.
Die MLM ruft alle arbeitenden Frauen auf, gegen eine solche sexistische Diskriminierung zu kämpfen.
Die MLM befürwortet und unterstützt diesen Kampf.
MOVIMENTO DA LIBERTACAO DAS MULHERES “

[S.13:] Weiter nahm diese Bewegung Stellung gegen „Machistische Gesetzgebung“:
„In den Versammlungen haben wir uns hauptsächlich mit dem Problem der Gesetzgebung beschäftigt, welche die Familie und die Frau betrifft: Freiheiten, väterliche Gewalt, Rechte und Pflichten der Ehegatten, etc. … Die familiäre Zelle nach den Gesetzen ist eine faschistische Zelle: mit einem Führer, dem Mann, der das alleinige Entscheidungsrecht hat. Der einzige Bereich, der der Frau bleibt, ist der der Kinder: sie hat kaum das Recht, sie in die Welt zu setzen und großzuziehen.“
Ebenso gegen das Abtreibungsverbot:
„Die Kommunistische Partei Portugals hat anläßlich ihres Kongresses das vorgelegt, was sie für die Forderungen der portugiesischen Frau hielt. Aber während in den Ostblockländern die Abtreibung [straf]frei ist, ist die Frage hier nicht einmal gestellt worden. Das ist äußerst schwerwiegend. Ebenso enthält das Programm der Sozialistischen Partei [Sozialdemokraten unter Mario Soares] so gut wie nichts über die Freigabe der Abtreibung. Die Leute sind sich des Problems nicht bewußt. Sie wissen nicht, daß jeden Tag Frauen an den Folgen einer Abtreibung sterben.
Unter den proletarischen Frauen sind diejenigen selten, die sich nicht einer beträchtlichen Zahl von Abtreibungen unterzogen haben – und sich immer noch unterziehen müssen. Wir bereiten im Moment eine Buch über dieses Problem auf der Grundlage von Umfragen vor.
Sogar die Frauen aus der Bourgeoisie sagen, daß es für sie schwierig ist, eine Abtreibung zu machen. Eine Abtreibung kostet in einer Klinik in Lissabon 9 Contos, das sind ungefähr 3 000 DMark.
Die Frauen vom Land, die Frauen aus der Arbeiterklasse, die Frauen aus der Klein- und Mittelbourgeoisie, alle wurden wenigstens ein Mal in inem mehr als kritischen Zustand ins Krankenhaus eingeliefert. Die meisten treiben selbst bei sich ab, mit einem Haken, mit Entenfedern oder kleinen angespitzten Holzstäbchen. Eine 44jährige Frau hat uns gesagt: ‚Ich arbeite auf den Feldern. Ich habe ganz allein 33 Abtreibungen gemacht.’ Eine Hebamme erzählte uns: ‚Es passiert mir, daß ich bis zu 10, 12 Abtreibungen pro Tag mache.’ Eine der Hebammen war sprachlos, als sie mit uns feststellte, daß es einen Durchschnitt von etwa 200 Atreibungen pro Monat bedeutet.
Die portugiesische Regierung weiß nichts von diesen Tatsachen oder tut so, als ob.
In der Tat ist die Abtreibung für die benachteiligtsten Frauen unserer Gesellschaft ein Problem. Die Parteien gehen die Frage nicht direkt an.
Dire Abtreibung ist in Portugal eines der schwerwiegendsten sozialen Probleme, das von den Autoritäten immer geschoickt umgangen wurde.
Die meisten Männer hindern ihre Frauen daran, Verhütungsmittel zu gebrauchen, unter dem Vorwand, daß – wie sie sagen – sie davon impotent werden könnten. Die Frauen sind dazu gezwungen, heimlich die Pille zu nehmen. Wir Frauen müssen unser Recht erobern, zu wählen; unser Recht, zu entscheiden, was wir mit unserem Körper machen wollen.“

Für den 13. Januar 1975, dem „Jahr der Frau“, bereitete die MLM eine erste Demonstration vor, die im Park Edward der 7. stattfinden sollte. In dem Flugblatt, mit dem sie dazu aufrief, hieß es:
„Die MLM eröffnet das Jahr der Frau mit einem Freudenfeuer. Warum ? Warum sollen wir nicht dieses Jahr mit einem Fest einweihen ? Ist das Jahr der Frau für die Frauen ein Grund zur Freude ?
Es gab nie ein Jahr des Mannes. Hast du dich jemals gefragt, warum ? Weil jedes Jahr ein Jahr des Mannes ist – seit jeher.
Die Lage der Frau, in allen Ländern der Welt ausgebeutet und unterdrückt, ist so weit von den verkündeten Gleichheitsgrundsätzen entfernt, daß wir kaum Gründe haben, zufrieden zu sein.
Trotz der diskriminierenden Haltung, die durch das Jahr noch unterstrichen wird, müssen wir die Gelegenheit ausnutzen, um die verschiedenen Formen der Unterdrückung der Frau in Portugal öffentlich anzuklagen.
Und wir fangen mit einem Freudenfeuer an.
Wir beabsichtigen, alle Gegenstände zu verbrennen, die – symbolisch oder nicht – die von uns erfahrene Unterdrückung verkörpern.
So werden wir z.B. das Bürgerliche Gesetzbuch und das Strafgesetzbuch samt Arbeitsrecht vernichten, die zur Zeit gelten, da sie die Lage der Frau dem Mann gegenüber als Unterlegene und Unterjochte offensichtlich machen;
vernichtet werden auch pornografische Zeitschriften wegen Mißbrauchs des Frauenkörpers als Sexualobjekt;
Töpfe, Besen, Putzlappen und andere Geräte, die das Sklavendasein der Hausfrau, ihre Unterwerfung unter die Hausarbeit symbolisieren;
Bücher, die ein Frauenbild darstellen, das vom Mann entstellt und geschaffen wurde und dem entspricht, was er von ihr verlangt zu sein;
Windeln, weil sie den Mythos ‚Frau – Mutter’ symbolisieren, der nur (da das Gesetz alle Rechte dem Vater vorbehält) Aufgaben, Opfer und schlaflose Nächte obliegen;
Spielzeugsachen, die von Kindheit an sehr klar die Rolle vorzeichnen, welche die Gesellschaft Mädchen und Jungen auferlegt, indem sie die einen zur Aggressivität, zur kriegerischen Gewalt führen, wie die Panzer und MGs, und die andern zur passiven Rolle als Hausfrau, wie Puppen, Puppengeschirr usw. …
Wir hoffen, daß 1975, das Jahr der Frau, wenigstens dazu dienen wird, die Aufmerksamkeit auf die skandalöse Tatsache zu lenken, daß mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung unterjocht ist, weil sie nur aus Frauen besteht.
GEMEINSAM WERDEN WIR UNSERE FREIHEIT ERRINGEN. “


14. Clip über die Demonstration am 13. Januar 1975


15. „Sexismus in Revolution und Konterrevolution“

Nachdem die Manifestation derart durch einen sexistischen Männer-Mob gesprengt worden war, erklärte die Frauenbewegung mit diesem offenen
„BRIEF DES M.L.M. NACH DER DEMONSTRATION VOM 13. JANUAR 1974:
Am 25. April ist in Portugal das Recht auf freie Meinungsäußerung anerkannt worden.
Bis gestern, Montag den 13. Januar, haben alle Demonstrationen ohne Zwischenfälle, in Ordnung und Respekt stattgefunden.
Nichts ließ voraussehen, daß sich alles durch die einfache Tatsache ändern würde, daß die Demonstrationsteilnehmer zufällig 20 Frauen waren.
Das ist jedoch, was geschehen ist.
Gestern also, am Montag dem 13. Januar, um 18 Uhr, als die Frauenbefreiungsbewegung sich anschickte, das Jahr der Frau wie angekündigt zu eröffnen, sind wir durch die Anwesenheit von mehreren Tausend Männern überrascht worden, die uns sofort daran gehindert haben, unser Vorhaben durchzuführen.
Sie haben uns in einer Orgie von Gewalt daran gehindert, gingen so weit, daß sie die Anwesenheit der Kinder vollkommen ignorierten – die ein Beweis unserer friedlichen Absichten waren und unseres Vertrauens in ein neues Portugal, wo jedem das Recht der freien Meinungsäußerung zustehen würde.
Als wir es geschafft hatten, diese Kinder ihren Händen zu entreißen, gingen sie so weit zu versuchen, das Auto umzukippen, in dem wir sie in Sicherheit gebracht hatten und aus dem die Kinder nur wieder raus konnten, indem wir sie regelrecht schützten. Schlimmer noch … Sie fingen an uns zu schlagen, uns Fausthiebe und Fußtritte zu versetzen, sie befummelten uns, schrien Obszönitäten … Noch schlimmer: sie machten ihren Hosenschlitz auf, holten ihren Schwanz raus, warfen Frauen in den Schlamm und zogen sie durch den Dreck, zogen ein 17jähriges Mädchen vollständig aus und zerschlugen das Auto einer Frau der MLM.
Das Jahr der Frau, von der UNO eingerichtet, wird auf der ganzen Welt gefeiert.
Und das geschieht in Portugal !
Was sind die Absichten dieser Tausende von Männern, daß sie so ein reaktionäres Verhalten an den Tag legten ?
(Manche von ihnen gehörten der Kommunistischen Partei an.)
Wir hoffen, und sei es nur weil die Welt ihre Blicke auf Portugal gerichtet hält, daß die Regierung in der Lage sein wird, Maßnahmen zu ergreifen um zu verhindern, daß solche Situationen sich wiederholen.

[S.19:]
Ein Jahr später – am 14. Januar 1975 –, als sich die Revolution in Portugal schon sehr weit zugespitzt hatte, stellte die MLM fest:
„Die Mehrzahl der Zeitungen boykottiert uns vollständig. Aber alles wird veröffentlicht, wenn es sich um Angriffe gegen die Bewegung [der Frauen] handelt. Alles was zu unseren Gunsten spricht, alles was zu unserer Verteidigung dienen kann und was wir sagen, alles das wird lediglich totgeschwiegen. Die Kritik, die ständig wiederkehrt, ist die: daß wir ‚bürgerliche Frauen’ sind. Wir sind tatsächlich keine ‚Proletarierinnen’. Das bedeutet nicht, daß unsere Klassenlage bourgeois ist. “
„Im allgemeinen sind uns die linksradikalen Bewegungen nie feindlich gesonnen. Die ML-Gruppen haben mit uns nie Kontakt aufgenommen, aber sie haben die Versammlungen der MLM nie gestört und haben nie was gegen uns gesagt. Es besteht zwischen ihnen und uns ein stillschweigendes Einverständnis.
Die Anarchisten haben sich immer zu unseren Gunsten geäußert. Sie haben uns angeboten, ihre Räume mit uns zu teilen, sie leihen uns ihr Material. Sie nehmen immer an den Demonstrationen teil, die wir organisieren, und sind immer auf unserer Seite.
Manche Organisationen behaupten, die Frauen könnten nicht befreit werden, bevor die Gesellschaft nicht befreit ist. Das ist ein trügerisches Argument, das uns trennt. Im Gegenteil, nur wenn die Frauen befreit sind, wird sich die Gesellschaft verwandeln können.“

Zum Verhältnis zwischen der MLM und den anderen Frauenbewegungen konnte sie allerdings berichten:
„Kaum hatten wir unsere ersten Schritte gemacht, als zahlreiche Bewegungen aus dem Ausland sofort mit uns in Kontakt traten und sich sehr begierig zeigten, über alles informiert zu werden, was hier geschieht. Die französische MLF, die niederländische MLF sind mit uns in Verbindung getreten, Telegramme wurden uns aus New York geschickt, von der Womens’ Lib …“

So gelang es der MLM, im Sommer 1975 in Lissabon ein internationales Treffen zur Solidarität mit den Kämpfen der Frauen zu organisieren.
Damals zog die portugiesische Frauenbefreiungsbewegung das Resümee:
„ANDERS, ABER NICHT GERINGER
… Wir kämpfen gegen ein ganzes System, gegen ein ganzes soziales Gerüst. Darum ist es nicht möglich, eine Definition des Feminismus zu geben. Nichts von dem, was jetzt existiert, gefällt uns. Wir wollen eine völlige Neugestaltung der Gesellschaft. Die Frauen sind nie wegen irgendeiner Sache um Rat gefragt worden. Sie haben zu nichts von dem beigetragen, was gemacht worden ist. Und alles ist falsch gemacht worden, weil es nur von einer Hälfte der Menschheit erdacht wurde.
Wir sind sehr verschieden von den Männern, aber verschieden bedeutet nicht: geringer. Wir sind nicht mit dem Mann identisch, weder physisch noch psychisch. Wir stellen die Frage: aus welchem Grund, im Namen wovon schweigt die Hälfte der Menschheit ? Im Namen wovon – weil wir mit einer Vagina und einem Uterus geboren sind – sollen wir zu Hause bleiben und sticken ? Wer entscheidet darüber ? Im Namen wovon ist die Hälfte der weiblichen Literatur im Lauf der Jahrhunderte verbrannt worden ?
In den Augen der Männer schwankt die Frau zwischen Mutter, Schwester, Jungfrau, Hausfee und Hure. Wenn eine Frau etwa NEIN sagt, ist die sofortige Antwort: Hure! Natürlich, wir dürfen in die Fabriken gehen, in die Hochschulen, wir können die andere Hälfte des Mannes sein, seine Lebensgefährtin, mit ihm in den politischen Parteien aktiv mitarbeiten und den Männern den Kaffee servieren, während sie denken, wir dürfen Flugblätter verteilen, uns abarbeiten bis zum Verrücktwerden … aber all das hat nichts damit zu tun, eine politische Funktion zu haben – das nennt man als Dienstmädchen fungieren.
Die Frauenbefreiungsbewegung funktioniert nach Modellen, die sich von den üblichen ziemlich unterscheiden. Damit die Frauen vollkommen frei sind zu kommen oder nicht, teilzunehmen wenn sie Lust dazu haben, oder wegzugehen wenn sie es für richtig halten, folgen wir nicht dem üblichen Schema mit Eintragungsliste und dem ganzen Krimskrams … Es fällt uns dadurch recht schwer zu sagen, wieviele wir ungefähr sind. Es gibt Frauen, die ab und zu kommen, es gibt welche die woanders kleine Arbeitsgruppen gründen. Bei der Companhia Portuguesa gibt es eine feministische Gruppe. Darüber hinaus gibt es eine sehr große Zahl von Frauen, die mit uns einverstanden sind, aber nicht kommen können.
Die MLM funktioniert auf die gleiche Weise wie die französische MLF [Mouvement de Libération des Femmes]. Es gibt mehrere Richtungen innerhalb der Bewegung; z.B. die Lesben, die sehr radkal sind, haben eine autonome Aktivität, gehören aber gleichzeitig unserer Bewegung an. Zwei große Tendenzen zeichnen sich ab: die eine, mit reformistischem Enschlag, wird von älteren Frauen vertreten; die andere, weitaus heftiger und radikaler, wird vor allem von den jüngeren verfochten.“


ÜBERGANG IN DIE WALPURGISNACHT
MIT DEM VIELSTIMMIGEN (portugiesisch, englisch, russisch) EINGESPROCHENEN POSTSCRIPTUM AUS DEM PORTUGALBRIEF VON GUY DEBORD:„Die Arbeiter_innen in Portugal sprechen ohne Unterlass miteinander, und sie sagen: …“

PORTUGIESISCH: GUY DEBORD À AFONSO MONTEIRA: POST-SCRIPTUM 24 – 02 – 1975
Os trabalhadores em Portugal não param de falar e eis aquilo que dizem:
A revolução não é uma tempestade, mas um rio majestoso e fértil. Só se pode sonhar quando se está a dormir. A fraternidade não é um mito. Nos momentos difíceis os amigos aumentam. Abandonai todo o desespero, vós que aqui entrais. Aqui reside a sabedoria das nações. A humanidade é a vencedora de quimeras, a novidade do amanhã, a regularidade de que padece o caos, o sujeito da conciliação. É ela o juiz de todas as coisas.
É doravante necessário lidar com a razão, que opera apenas sobre as faculdades que comandam a categoria dos fenómenos da pura bondade. O mal revolta-se contra o bem; não pode fazer menos. Na nova ciência, cada coisa surge no devido momento e tal é a sua excelência.
Nascemos justos. Cada um caminha em direcção a si próprio. Em direcção à ordem. É necessário caminhar em direcção ao geral. A inclinação para si próprio é o fim de todas as desordens, na guerra, na economia.
Somos de tal forma modestos que gostaríamos de ser conhecidos pelo mundo inteiro, até mesmo pelos que virão quando nós já não o habitarmos. O desespero é o menor dos nossos erros. Quando um pensamento se nos oferece como uma verdade que percorre as ruas e que nós nos dedicamos a desenvolver, percebemos que se trata de uma descoberta.
É necessário tudo esperar e nada temer da parte do tempo, da parte da humanidade. As revoluções dos impérios, as faces dos tempos, o fim das nações – tudo isto provém de uma classe que se verga, apenas para acordar um dia e destruir o espectáculo do universo em todas as idades.
Há mais verdades do que erros, mais qualidades boas que más, mais prazeres do que dores. Nada está feito. Chegámos demasiado cedo, uma vez que há mais de um século que existem proletários que pretendem abolir as classes. No que diz respeito à emancipação social, como a tudo o resto, o menos bom é removido. Temos a vantagem de agir após os velhos revolucionários e de ser os mais hábeis entre os modernos. Somos capazes de amizade, justiça, compaixão e razão.
E é por dizerem tudo isto que os trabalhadores portugueses são um escândalo e uma abominação para todas as classes proprietárias do mundo, que se vêm forçadas a subjugá-los tão depressa quanto possível e por todos os meios necessários. O capital e a burocracia juraram a sua queda e todos os seus agentes trabalham em conjunto para esse efeito, Cunhal e Kissinger, Franco e Brejnev, Giscard e Mao; porque a ridícula e miserável futilidade da sua verdadeira prática e as justificações espectaculares dos poderes exploradores que estes representam deixam imediatamente cair o seu véu quando confrontadas com a seriedade e grandeza deste projecto, do qual os trabalhadores portugueses ofereceram o exemplo. Mas precisamente porque disfrutam de tamanha liberdade neste momento (os burgueses fogem, o sindicalismo esconde-se, os soldados comandam os seus oficiais), os trabalhadores acreditam que o Estado praticamente desapareceu.
O proletariado português afirma uma vez mais que, enquanto os seus amigos não estiverem a morrer, não vale a pena falar de morte. Desconhece que o tempo não espera, que a bondade não chega, que a sorte muda e que a perfídia jamais encontra uma generosidade suficientemente grande para a satisfazer.

ENGLISCH:
The workers in Portugal are speaking at every moment, and they are saying:
The revolution is not a tempest, it is a majestic and fertile river. One only dreams when one is asleep. Fraternity is not a myth. In misfortune, friends grow. You who enter, leave all despair behind. It is here that the wisdom of the nations dwells. Mankind if the vanquisher of chimeras, the novelty of tomorrow, the regularity that chaos groans, the subject of conciliation. Mankind is the judge of all things.
It is henceforth necessary to reckon with reason, which only works on the faculties that preside over the category of the phenomena of pure goodness. Evil rebels against good; it cannot do less. In the new science, each thing comes in its turn, such is its excellence.
We are born just. Each tends towards itself. Towards order. It is necessary to tend towards the general. The inclination towards self is the end of all disorder, in war, in [the] economy.
We are so unpresumptuous that we would like to be known by the world, even by the people who will come when we are no longer on it. Despair is the smallest of our errors. When a thought offers itself to us like a truth that travels the streets, that we take the effort to develop, we find that it is a discovery.
It is necessary to expect everything, fear nothing from time, from mankind. The revolutions of the empires, the faces of the times, the end of nations — all this comes from a class that grovels, only to wake up one day [and] destroy the spectacle of the universe in all the ages.
There are more truths than errors, more good qualities than bad ones, more pleasures than pains. Nothing is done. One comes too soon, since for more than a century, there have been proletarians, who want to abolish the classes. Concerning social emancipation, as with the rest, only the least good is removed. We have the advantage of acting after the old revolutionaries and the clever ones among the moderns. We are capable of friendship, justice, compassion and reason.
And this is why they say the Portuguese workers are a scandal and an abomination to all the proprietary classes of the world, which must then put the workers down as soon as possible and by all means necessary. Capital and the bureaucracy have sworn their downfall and all of their agents work toward this goal together, Cunhal and Kissinger, Franco and Brezhnev, Giscard and Moa, because the ridiculous and miserable futility of the real practice and the spectacular justifications of the exploiting powers that they represent instantaneously unveil themselves in the face of the seriousness and greatness of the project, for which the Portuguese workers have provided the example. But because they enjoy so much liberty at this moment (the bourgeois flee, unionism is in hiding, the soldiers are in command of the officers), the workers believe that the State has almost disappeared.
The Portuguese proletariat says again that, as long as its friends are not dying, it will not speak of death. It does not know that time does not wait, that goodness is not enough, that chance changes and that wickedness never encounters generosity great enough to satisfy it.

RUSSISCH:
Португальские рабочие и работницы постоянно разговаривают друг с другом и они говорят:
Революция — это не шторм, а величественная и богатая река. Мы видим сны лишь тогда, когда мы спим. Братство — это не миф. Во время несчастья число друзей и подруг увеличивается. Вы, вышедшие на сцену, отбросьте всё отчаяние. Тут обитает мудрость народов. Люди — это победители глупости, новая эпоха завтрашнего дня, упорядоченность, о которой вздыхает хаос, предмет примирения. Он всех рассудит.
С этого момента необходимо считаться с разумом, воздействующим только на способности, предшествующие категории чистого добра. Зло возмущается против добра. Меньшего сделать оно не способно. В новой науке каждая вещь возникает в своё время; этим она и примечательна.
Мы рождаемся справедливыми. Каждый и каждая стремится к себе. Это значит — к порядку. Нужно стремиться к общему. Трудная дорога к самим себе — это конец подчинения, в войне, в экономике.
Мы столь мало заносчивы, что мы даже на Земле хотим быть известны среди людей, которые будут жить, когда нас не станет. Отчаяние — самое малое наше заблуждение. Когда в нас возникает мысль как повседневная истина и мы стараемся её развить, мы обнаруживаем, что это — открытие.
Нужно быть готовыми ко всему, не опасаться ни времени, ни людей. Революции империй, лица времён, конец наций, всё это исходит от пресмыкающегося класса, который однажды проснётся и раз и навсегда разрушит спектакль вселенной.
Правды больше, чем заблуждений, положительных черт больше, чем отрицательных, больше радости, чем страдания. Ничто не окончено. Более столетия, с тех пор, как существуют пролетарии, стремящиеся упразднить классы, мы забегаем вперёд. Что касается общественного освобождения и всего остального, то менее справедливое было устранено. Мы пользуемся тем преимуществом, что действуем как потомки старых революционеров и современных мошенников. Мы восприимчивы к дружбе, справедливости, состраданию и разуму.
И поскольку они так говорят, португальские рабочие и работницы являются скандалом и ужасом для всех имущих классов мира, которые хотят сокрушить их как можно раньше при помощи всех доступных им средств. Капитал и бюрократия поклялись, что заставят их исчезнуть, и все их агенты совместно работают над этим, Куньял и Киссинджер, Франко и Брежнев, Жискар и Мао; ибо смехотворность и ничтожество реальной деятельности и спекулятивных оправданий эксплуатационных властей, которые они представляют, тут же раскрывают своё истинное лицо пред лицом серьёзности и величия проекта, пример которого подают португальские работницы и рабочие. А они считают, что уже почти не существует никаких государств — такой свободой обладают они на данный момент (буржуа бежит, профсоюзник прячется, солдаты отдают офицерам приказания).
Кроме того португальский пролетариат говорит, что он не станет говорить о смерти, пока его друзья и подруги не умирают. Он игнорирует то, что время не ждёт, что добра не достаточно, что удача может отвернуться и что злоба никогда не встречает столько великодушия, чтобы успокоиться.
Ги Дебор, 24.2.1975