Koalitionspapier

Umrisse des Kritikprogramms der translib. (2014)

Dieser ersten öffentlichen Fassung unseres „Koalitionspapiers ging ein mehrmonatiger kollektiver Diskussions- und Schreibprozess voraus. Das Koalitionspapier wurde zu unserer Eröffnung am 30. Dezember 2013 veröffentlicht und stellt die verbindliche theoriepraktische Grundlage der kollektiven Arbeit in der translib dar, durch die es gleichzeitig weiter entwickelt, vertieft und korrigiert werden soll.

Den Text gibt es auch als PDF und als Audiostream zum Anhören sowie als Broschüre in einem DIN A5-Sonderformat. Die Broschüre ist vor Ort in der translib oder in den Leipziger Buchhandlungen Drift und Kapitaldruck zum Unkostenpreis erhältlich. Für Bestellungen per Post bitte an translib@gmx.de wenden.

Es folgt der Text der Broschüre:

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„Die ersten Versuche der Arbeiter, sich untereinander zu assoziieren, nehmen stets die Form der Koalitionen an.“ (MEW 4,S.180f)

Dieser Text stellt das Resultat eines Diskussionsprozesses in der translib dar, der zur Verständigung über den gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustand und über die Bedingungen einer theorie-praktischen Assoziation in communistischer Absicht dient.

Als Versuch, diese Arbeit auf eine allgemein-verbindliche und transparente, theoretische Grundlage zu stellen und sie damit einer kontinuierlichen Kritik und Selbstkritik zugänglich zu machen, sind die Thesen kein fixes Programm. Vielmehr bilden sie den programmatischen Rahmen für einen Forschungsprozess, der in Ansehung weiterer Momente der konkreten gesellschaftlichen Totalität stetig weiterzutreiben ist.

Wir laden alle ein, die sich an dieser kollektiven theoretischen Arbeit beteiligen wollen. Praktizieren wir die programmatische Ergründung unserer erbärmlichen Lebensbedingungen und experimentieren wir mit ihrer revolutionären Überwindung!

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In der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich die Klassen der Bourgeoise und des Proletariats gegenüberstehen, ist die grundlegende aller Trennungen die Trennung der Gesamtarbeiterin von ihren gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Obwohl die Produzent_innen den gesellschaftlichen Reichtum erarbeiten, haben sie keine Macht über den Gebrauch ihres Lebens, denn die dazu notwendigen Mittel und Bedingungen sind das private Klasseneigentum der besitzenden Klasse. Das profane Werkeltagsleben vollzieht sich unter der Despotie der Fabrik und des Büros oder dreht sich um den Versuch, die eigene, zunehmend überflüssig werdende Arbeitskraft zu verkaufen. Über die Organisation der gesellschaftlichen Raum-Zeit können die Lohnabhängigen nicht entscheiden. Als Mitglieder einer auch politisch beherrschten Klasse sind sie Insassen einer im besten Falle bürgerlich-demokratischen Staatlichkeit, die sie von der gemeinsamen Regelung der Belange ihres Gemeinwesens trennt und auf ein pauschales Votum beschränkt. In seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist und Gesellschaftsplaner ist es das Geschäft des Staates, die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Kapitals zu garantieren

Indem der Staat im Sinne des kapitalistischen Gemeinwohls die Reproduktion der Ware Arbeitskraft reguliert – etwa durch Arbeitsschutzvorschriften oder Sozialgesetzgebung –, ist er auch das verrechtlichende Kampffeld für die Durchsetzung subalterner Interessen.

Doch solange die Kämpfe nur in den Bahnen von Staat, Recht und Politik verlaufen, bleiben sie notwendig beschränkt und führen niemals heraus aus der Klassengesellschaft. Die erhofften staatlichen Reformen erweisen bereits in der nächsten Krise ihre geringe Halbwertszeit. Der illusionäre Charakter des Reformismus tritt ebenso offen zutage wie der Gewaltgrund des Staates, der die allgemeinen Reproduktionsbedingungen des Kapitals mit allen Mitteln durchsetzt.

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Das Alltagsleben stellt sich dar als Areal des verkehrten Bewusstseins. Dieses ist das notwendige Resultat der gesellschaftlichen Verkehrung, die darin besteht, dass die sozialen, praktisch hergestellten Verhältnisse der Menschen als natürliche Eigenschaften der Dinge erscheinen, sich als gesellschaftliche Macht über sie verselbständigt haben und sich ihrer Kontrolle entziehen. Dieser Zustand offenbart seine ganze Archaik darin, dass der moderne Animismus des „Sachzwangs“ in ihm eine realitätsgerechte Denkform ist. In ihrem Alltag haben es die Individuen immer schon mit den fertigen Formen von Ware, Geld und Kapital zu tun, die sie wie selbstverständlich denkend und handelnd umsetzen; sie fühlen sich in diesen Formen zu Hause.

Diese Gesellschaft und ihre Subjekte sind die Brutstätte mannigfaltiger Ideologien, die ihre historisch-gesellschaftlichen Bedingungen ausblenden. Ideologien sind das zu umfassenden Sinngebäuden ausgeweitete, gesellschaftlich notwendig falsche Bewusstsein. Sie sind durch persönliche und klassenmäßige Interessen vermittelte Verarbeitungsformen der notwendigen verkehrten gesellschaftlichen Kategorien, mittels derer die Menschen versuchen, sich einen Reim auf ihre Existenz zu machen. Ideologien sind also nicht schlechterdings falsch, sondern immer auch die prozesshaften Formen, durch die sich die Menschen über die Konflikte ihrer Wirklichkeit graduell bewusst werden und sie ausfechten. Durch Legimitationsideologien soll dem Sinnlosen ein Sinn abgepresst, der herrschenden Irrationalität die Weihe des Vernünftigen verliehen und das Infame gerechtfertigt werden. Während die Müden und Beladenen sich solcherart in einem Zustand der Passivität halten, indem sie sich gegenseitig damit abspeisen, dass es nun einmal so ist, wie es ist, und das Ende der Geschichte schon da ist, werden manch andere praktisch.

Wo sich Moralisten und Empörte voll blinder Straflust auf die Suche nach einem Sündenbock für ihre Misere machen, bilden die Ideologeme eines reaktionären Antikapitalismus einen Katalysator, der den Hass auf ein kompaktes Ziel lenkt und den Wütenden eine „Endlösung“ für ihre Probleme verheißt. Wo der ideologisch formierte Hass sich zum Massenwahn steigert, erscheint den integrierten Paranoikern die Welt als große Verschwörung, als deren Drahtzieher mit schlafwandlerischer Sicherheit am Ende immer die Juden ausgemacht werden.

Insbesondere die grausamen Resultate des praktisch gewordenen Antisemitismus im 20. Jahrhundert, die mit der Chiffre „Auschwitz“ zu fassen versucht wurden, machen den Ökonomismus obsolet und erheben die Kritik der Ideologie zur dringenden Aufgabe im Zeitalter „nach Auschwitz“. Wir wissen heute, zu welch vernichtender materieller Gewalt eine Ideologie werden kann, wenn sie die psychotischen Massen ergreift. Ideologiekritik ist aber nur dann radikal, wenn sie die Ideologie als nur relativ selbständigen Faktor in der Geschichte bestimmt, wenn sie die Ideologie an ihrer Wurzel packt und sie aus der verkehrten, spezifisch historischen Form der gesellschaftlichen Praxis begreift. Wissenschaftlich ist sie, wenn sie Identität und Nichtidentität von Erscheinungsformen, Schein und Wesen der Erkenntnisgegenstände voneinander analytisch unterscheiden und historisch rekonstruieren kann. Sie ist kommunistisch, wenn sie auf Grundlage dieser Erkenntnisse dafür kämpft, dass eine historische Gestalt des gesellschaftlichen Seins verschwindet, in der die Menschen derart  blutrünstige Formen des gesellschaftlichen (Un-)Bewusstseins entwickeln.

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Das wissenschaftliche Denken hat seinen Ausgangspunkt im ideologischen Alltagsbewusstsein, auf das es wiederum zurückwirkt. Durch methodische Abstraktionen kann der falsche Schein bis zu einem gewissen Grad durchdrungen werden, indem etwa Gesetze gefunden werden, die die Funktionsweise von Teilkomplexen entschlüsseln, oder durch historisch-genetische, vergleichende Studien. Diese Abstraktionen konterkarieren das penetrante Mantra der Macht, dass die Form der Gesellschaft ein alternativloses Schicksal sei. Gleichzeitig stellen diese Teilerkenntnisse den Stoff dar, mittels dessen die verkehrten Bewusstseinsformen des Alltagslebens zu populären Weltanschauungen aufgespreizt werden. Die Erkenntnisfortschritte der Evolutionstheorie etwa schlugen eine Bresche in das theologische Weltbild, indem sie durch den Nachweis der naturgeschichtlichen Einheit von Mensch und Natur den Schöpfungsmythos obsolet machten. In ihren populärwissenschaftlichen und kulturindustriellen Verarbeitungen wird sie zur gefährlichen Halbbildung, die dafür sorgt, dass das aus Naturgeschichte Entsprungene auf immer nichts als bloße Naturgeschichte bleibt. Wo die modernen Trennungen der Geschlechter aus der Physis von Höhlenmenschen „erklärt“ werden, wo die modernen Verstümmelungen und Depravationen durch den Verweis auf die Blutsurenge des Stammesverbandes als ganz normal erscheinen, da gibt es nur mehr das Fatum der Gene, und der Szientismus fällt in den krudesten Ursprungsmythos zurück.

Das Verharren auf dem Niveau bloß verstandesmäßiger Rekonstruktion und die Fixierung der herausgesonderten abstrakten Allgemeinheiten reflektieren nicht den Zusammenhang des untersuchten Gegenstandes mit anderen Gegenständen und der Gesamtheit der Gegenstände. Das Nichtreflektieren dieser Zusammenhänge bildet das Einfallstor für irrationale Deutung einzelner, isolierter und zunächst richtig erkannter Fakten. Dagegen ist für die vernünftig-begriffliche Reflexion der Gesichtspunkt der Totalität leitend, über den die Gegenstände konkretisiert werden, d. h. sich als Momente einer konkreten Totalität und in Beziehung mit anderen Momenten prozessierend erweisen. Die Totalität ist nicht als ein abgeschlossenes System zu begreifen, sondern als unabgeschlossener Prozess, so dass sich alle Wissenschaften praktisch in die eine Wissenschaft von der Geschichte auflösen müssen.

Mit der fortschreitenden Vergesellschaftung und Teilung der Arbeit sowie der wachsenden Bedeutung der wissenschaftlichen und technischen Produktivkräfte erweitert sich die kapitalproduktive Arbeit über den unmittelbaren Produktionsprozess hinaus. Infolge der vermehrten Anpassung der Wissenschaft an die unmittelbaren Erfordernisse der Produktion wird die geistige Arbeit Teil der kapitalproduktiven Arbeit und die wissenschaftliche Intelligenz zunehmend proletarisiert. Die voneinander getrennten Einzelwissenschaften haben den Zweck, Spezialwissen zur technokratischen Anwendung anzuhäufen, und unterliegen der sich stets ausweitenden Arbeitsteilung, welche die Einsicht in den objektiven Zusammenhang der Einzelphänomene als Momente einer reich gegliederten Totalität verstellt. Der fortschreitenden Akkumulation von borniertem Spezialwissen steht eine Unkenntnis des sich hinter dem Rücken der WissenschaftlerInnen unbegriffen vollziehenden Gesamtprozesses gegenüber, der doch die Phänomene erst konstituiert, die jene als äußerliche, isolierte Gegebenheiten aufnehmen; besonders kecke Apologeten machen aus der Not eine Tugend und preisen diese Unkenntnis stolz als das non plus ultra eines wilden Denkens. Dass diese Propaganda des amor fati von der Macht gelegentlich mit Lehrstühlen honoriert wird, ist wenig verwunderlich.

Zugleich entwickelt sich aber mit dem modernen Vergesellschaftungsniveau der Arbeit tendenziell eine Totalität von sich gegenseitig aufeinander beziehenden Wissenschaften, die über die Grenzen der Fachwissenschaften hinausweisen. In Phänomenen wie dem Klimawandel kommen die wahrhaft globalen Auswirkungen der menschlichen Gattungskräfte in ihrer verkehrten autodestruktiven Form zum Ausdruck. Der umfassende Charakter dieser Wirkungen zwingt den Spezialisten neue Formen der Kooperation auf, da sich die Wirklichkeit in ihrem umfassenden Systemcharakter nicht um die Grenzen der professoralen Ressorts schert. Jede noch so interdisziplinäre Technikfolgeabschätzung bleibt jedoch ohnmächtig, solange die gesellschaftlichen Pseudo-Naturgesetze nicht einmal begriffen, geschweige denn abgeschafft werden. Da aber die institutionalisierte Wissenschaft es bisher nur von der Magd der klerikalfeudalen Ordnung zur Magd von Staat und Kapital gebracht hat, steht sie weitgehend unter dem wissenschaftlichen Denkverbot des privaten Klasseneigentums und des Staates, so dass auch in dieser existenziellen Frage der menschlichen Gattung von ihr keine realistischen Lösungsvorschläge zu erwarten sind. Erst wenn wir erkennen, dass wir die ganze geschichtliche Wirklichkeit bereits unbewusst selbst hervorgebracht haben, können wir uns als die potenziell bewussten Subjekte unserer eigenen Zukunft begreifen.

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Mit der Reproduktion des Kapitalverhältnisses reproduziert die Klasse der Lohnabhängigen nicht nur ihr objektives Elend, sondern auch ihre Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand. Eine Welt produktiver Triebe und Anlagen und das Bedürfnis nach schrankenloser Entfaltung der Individualität entwickeln sich durch eine entfremdete Gesellschaftsform und werden zugleich zugunsten dieser Lebensweise unterdrückt, die sich zunehmend als borniert erweist. Das daraus hervorgehende diffuse Unbehagen kann sich durch bewusstlose Reaktionen auf die Entfremdung in verschiedensten konformistischen Formen manifestieren, wie etwa in der Pseudoaktivität reformistischer Realpolitik, in Resignation oder in Ausbrüchen roher Aggression gegen Schwächere.

Allzu oft tritt die aus diffuser Unzufriedenheit geborene Aktivität als zyklisch aufflammende Suche nach Schuldigen auf. Als solche ist sie Ausdruck einer konformistischen Rebellion, deren typische Bewegungsform der „Skandal“ ist. In den periodischen Aufwallungen und Erregungen der linken wie der bürgerlich-philantropischen Öffentlichkeit geht es keineswegs darum, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu überwinden – doch soll der Grad der Ausbeutung das angestammte, mittelständische Maß nicht verletzen. Keineswegs soll die Herrschaft des Menschen über den Menschen überwunden werden – stets geht es in der Schelte über Christian Wulffs Reihenhaus, Karl-Theodor zu Guttenbergs Dissertation, den Pfusch beim Bau des Berliner Flughafen usw. darum, die korrupte und ineffiziente, also uneigentliche Ausübung der Herrschaft durch einen echten Volksstaat zu ersetzen, dessen Charaktermasken „wir endlich wieder vertrauen können“; dem „wir“ es also zutrauen, dass er – koste es im Übrigen, was es wolle – das nationalistische Phantasma „unserer Volkswirtschaft“ auf Vordermann bringe. Und so ist es auch nicht der eigene Ausschluss vom gesellschaftlichen Reichtum, so ist es nicht das eigene Leiden an der auf freudlose Plackerei vergeudeten Lebenszeit, der die Bescheidwisser umtreibt. Denn es sind gerade die egoistischen Bedürfnisse, es ist gerade das individuelle Streben nach einem „Glück ohne Macht, dem Lohn ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein“ (Horkheimer/Adorno, Elemente des Antisemitismus), das von der aggressiven Selbstlosigkeit dieser Zwangscharaktere überall dort verfolgt wird, wo sie Spuren davon vermuten. Eine Kritik an der Gesellschaft, die sich nicht an der Hekatomben verschlingenden Selbstverwertung des Kapitals stößt, sondern einzig daran, dass diese Maschinerie hier und da nicht ganz reibungslos am Laufen gehalten wird; eine Kritik, die darauf verzichtet, die grundsätzlichen Formen der kapitalistischen Vergesellschaftung anzugreifen und sich stattdessen nur auf ihre vermeintlich artfremden „Exzesse“ kapriziert; eine solche „Kritik“ ist keineswegs nur „verkürzt“ oder „reformistisch“. Denn die Gemengelage aus einer krisentreibenden, gesellschaftlichen Dynamik und ihrer im Alltagsdenken nur allzu erfolgreichen Selbstverschleierung einerseits, der autoritären Konstitution der so panischen wie verhärmten Subjekte andererseits, sind der nach wie vor fruchtbare Nährboden des antisemitischen Syndroms in der bürgerlichen Gesellschaft.

Die notwendigen Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft finden im Antisemitismus ihren offen pathologischen Austrag: wo sich zwischen Anspruch und Realität der Gesellschaft von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ Diskrepanzen ergeben, werden diese nicht der Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Produktionsweise, sondern den Juden angelastet. Der Antisemit versteht sich stets als „unbequemer Querdenker“ – in Wahrheit glaubt er wie kaum einer an das idyllische Lichtbild der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn man ihn nur machen ließe, so seine Überzeugung, wäre die kapitalistische Produktionsweise schon längst keine brutale Veranstaltung aus Konkurrenz und Entsagung mehr, in der bei Strafe des Untergangs der Mensch des Menschen Wolf sein muss, sondern eine im Inneren heimelige, nach außen wehrhafte nationale Gemeinschaft, in der Volk und Staat, Staat und Kapital, Kapital und Arbeit in trauter Harmonie versöhnt wären – nichts anderes als diese Überzeugung verbirgt sich hinter Heinrich von Treitschkes Ruf zum Pogrom: „Die Juden sind unser Unglück“. Es ist die kapitalistische Gesellschaft, die „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefend“ (Marx, Die ursprüngliche Akkumulation) das Licht der Welt entdeckte, bevor sie die ganze Welt mit barbarischer Gewalt zivilisierte; es ist die kapitalistische Gesellschaft, deren höchstes Gut, deren letzte Weisheit und deren allgemeines Lebensgesetz in der entfesselten Plusmacherei, der Verwandlung von Geld in mehr Geld besteht: es ist diese kapitalistische Gesellschaft, die zugleich als die latent antisemitische Gesellschaft zu bestimmen ist. Sie will das Privateigentum, aber sie verdammt seine notwendige Konsequenz, das Geld. Sie will den Markt, aber sie verdrängt die Krise. Sie will die große Industrie und den in ihr zu gewinnenden Profit, aber sie verabscheut dessen Komplement, das Geldkapital. Die scheinhafte Entgegensetzung des wesentlich Vermittelten reflektiert sich in der Schizophrenie des bürgerlichen Subjekts, das stets zwischen rücksichtsloser Verfolgung seiner Interessen und dem moralischen Appell zur Gemeinschaft schwankt. Die latent antisemitische Gesellschaft treibt in den gesellschaftlichen Individuen das Bedürfnis hervor, die Widersprüche vermittels einer pathischen Projektion abgespaltener Momente zu glätten und sich an den Schwächsten der Schwachen für das Unglück der bürgerlichen Gesellschaft gewaltvoll schadlos zu halten. Aufgrund der inneren Verwandtschaft von bürgerlicher Gesellschaft und antisemitischer Krisenlösung ist die bloße Verteidigung ersterer als dem geringeren Übel nur dem Anschein nach eine vernünftige Option. In Zeiten, da der in Griechenland, Ungarn etc. wieder auf Hochtouren laufenden faschistischen Krisenaustreibung von den „liberalen“ Staaten ebenso mit Achselzucken begegnet wird wie dem Griff islamischer Endzeitrackets nach der Atombombe gegen Israel, entpuppt sich die kapitalistische Gesellschaft in ihrer postfaschistischen Gestalt als unverbesserliche Wiederholungstäterin.

Trotz der nach wie vor bestehenden Gefahr einer Einmündung gesellschaftlicher Unzufriedenheit in die Bahnen der konformistischen – im Extremfall: antisemitischen – Rebellion sind die vor unseren Augen vor sich gehenden, beschränkten Kämpfe nicht vom Standpunkt eines geschichtsphilosophischen Apriorismus zu beurteilen. Sie sind also weder optimistisch noch pessimistisch als von vornherein emanzipatorisch oder reaktionär zu klassifizieren. Da ihre Entwicklung prinzipiell historisch offen ist, gilt es ihren sozialen Gehalt am konkreten, besonderen Gegenstand freizulegen, der stets eine prozessierende Einheit mannigfaltiger, oft widerstreitender Aspekte und Tendenzen darstellt. Die Kämpfe werden danach zu beurteilen sein, ob sie sich theoretisch und praktisch als Bestandteil des Kommunismus als der wirklichen Aufhebungsbewegung des Bestehenden erweisen können. Wenn sich die Unzufriedenheit in organisierte Aktivität umsetzt, geschieht das zunächst als Zusammenschluss einer besonderen Gruppe gegen ein besonderes Problem ihres jeweiligen Sektors, womit diese Kämpfe die Isoliertheit der arbeitsteiligen Spezialisierung geerbt haben.

Radikale Anliegen können sich nur durchsetzen, wenn die Gesamtheit des bestehenden gesellschaftlichen Lebensprozesses angegriffen und umgewälzt wird. Die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen den klassenmäßigen Produktionsverhältnissen des Kapitals und den darin geschaffenen produktiven Kräften und Fähigkeiten der Gattung, die eine andere Organisation der gesellschaftlichen Arbeit möglich machen, ist die Voraussetzung für seine revolutionäre Aufhebung. Erringt das Proletariat Erkenntnis über seine eigene Lage im Produktionsprozess und ergründet diese diffuse Erkenntnis selbständig wissenschaftlich, dann kann es zum revolutionären Subjekt werden, zu dem prozessierenden Ort, an dem die Theorie in Emanzipationsgewalt umschlägt. Auf diese Weise theoriepraktisch bewaffnet und assoziiert, kann es sich zur „Klasse des Bewusstseins“ entwickeln. In einer Gesellschaft, die „Auschwitz und ähnliches“ hervorgebracht hat und immer wieder (potenziell) hervorbringt, muss sie mit dem barbarischen Potential der kapitalistischen Zivilisation rechnen. Aufgrund der ständig auf dem Boden dieser Gesellschaft sprießenden, konformistisch rebellierenden „Bewegungen“ kann sie sich keiner Illusion über ein progressives Kontinuum der Ablehnung des Bestehenden hingeben.

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„Gigantisch wie seine Aufgaben sind auch seine Irrtümer. Kein vorgezeichnetes, ein für alle Mal gültiges Schema, kein unfehlbarer Führer zeigt ihm die Pfade, die es zu wandeln hat. Die geschichtliche Erfahrung ist seine einzige Lehrmeisterin, sein Dornweg der Selbstbefreiung ist nicht bloß mit unermesslichen Leiden, sondern auch mit unzähligen Irrtümern gepflastert. Das Ziel seiner Reise, seine Befreiung hängt davon ab, ob das Proletariat versteht, aus seinen Irrtümern zu lernen.“ (Rosa Luxemburg, Krise der Sozialdemokratie)

Nur als fortgesetzte Neuformulierung einer Theorie der Praxis kann eine Kritik entfaltet werden, welche in der Lage ist, aktuelle Auseinandersetzungen über sich hinauszutreiben. Dazu bedarf es der Untersuchung der Geschichte der Arbeiterbewegung und anderer sozialer Bewegungen in ihrer Ambivalenz. Zunächst geht es dabei im Besonderen um eine Aneignung ihrer unabgegoltenen radikalen Elemente, die zu einer communistischen Aufhebung drängen, um diese zum übergreifenden Moment der wirklichen Bewegung zu machen. Wie kann kritische Theorie die heutigen Kämpfe auf den Begriff bringen und dabei deren vorwärtstreibende, unversöhnliche Momente verstärken? Wie und warum ist die proletarische Emanzipationsbewegung besiegt worden? Worin bestanden ihre Irrtümer, Halbheiten und Fehler, und welche Rolle spielten diese Mängel für ihre welthistorische Niederlage? Wie konnte eine Massenbewegung, die ihre Besitzansprüche auf die Zukunft siegesgewiss verkündete, in ein kümmerliches Häufchen anachronistischer Sekten zerfallen? Wie war es möglich, dass aus der modernen revolutionären Bewegung zugleich einige der zentralen Kräfte der modernen Konterrevolution – die national-revisionistische Sozialdemokratie und der Stalinismus – unmittelbar hervorgingen? Wie ist die Blindheit und Ohnmacht der Arbeiterinnenbewegung angesichts der spezifischen Gefahr der nationalsozialistischen Konterrevolution zu begreifen?

Um diese Traumata der modernen Emanzipationsgeschichte aufzuarbeiten, müssen die Zyklen der bisherigen Kämpfe ebenso untersucht werden wie die verschiedenen Organisationsversuche, ihre institutionalisierten wie nicht institutionalisierten Elemente und die von Außenseiterinnen durchgeführten Sprengversuche von innen. Der historische Ausgangspunkt einer Durcharbeitung dieser Geschichte kann heute nur der weltgeschichtliche Bruch sein, der in den 1940er Jahren erreicht worden ist. Eine solche Aneignung wird als Feindin jeder Nostalgie auftreten und der tröstenden Konstruktion des Wunschbildes eines vergangenen Zustandes ungebrochener weltgeschichtlicher Zuversicht entsagen. Durch den real existierenden Schwarzbuch-Kommunismus ist nicht nur die revolutionäre Tradition selbst, sondern auch der Versuch ihrer Aneignung berechtigterweise ins Zwielicht geraten. Indem die Zerfallsprodukte der Neuen Linken in die revolutionäre Tradition „jener zwanziger Jahre“ flüchteten, suchten sie von einer Siegesgewissheit zu zehren, die Nationalsozialismus und Stalinismus ein für alle Mal objektiv verunmöglicht haben. Umgekehrt sind jedoch das abstrakte Beiseiteschieben dieser traurigen Geschichte, eine geschwätzige Ahnungslosigkeit, die über das spektakuläre Bild des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ umso besser informiert ist, das abgeklärte Witzeln vom Standpunkt resignierter Ironie, das Naserümpfen über die oftmals erdrückende Trivialität der Kämpfe um das Nötigste aus der kontemplativen Erwartung des „ganz Anderen“ – sind dies alles so verständliche wie wohlfeile Gesten der Verdrängung, deren vermeintliche Souveränität als eine Verweigerung erinnernder Empathie zu dechiffrieren wäre. „In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. (…) Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, der siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ (Benjamin, Über den Begriff der Geschichte) Als Maxime einer Aneignung der vielfach gebrochenen Emanzipationsgeschichte des Proletariats dient daher der Versuch einer doppelten Umkehrung der Geschichte in der Gegenwart. Zum einen als vergegenwärtigendes theoretisches Umkehren in die Vergangenheit, als erinnernde Anamnese des wirklichen Albtraums der Geschichte, zum andern als radikal selbstveränderndes Umkehren in die Zukunft, als Abkehr von einer bagatellisierenden und beschönigenden, beruhigenden und letztlich apologetischen Identifikation mit den Gespenstern der Vergangenheit.

In den Kämpfen und Organisationsversuchen der alten Arbeiterinnenbewegung drückte sich die elementare Erkenntnis aus, dass das allgemeine Interesse des Proletariats nur durch eine Umwälzung der ökonomischen und politischen Verhältnisse einzulösen ist. Durch den Zusammenschluss der proletarischen Massen in Genossenschaften und Gewerkschaften sowie den unaufhaltsam scheinenden sozialdemokratischen Parteien konnten bis ins 20. Jahrhundert hinein gravierende Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und eine formal demokratische Anerkennung (Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts etc.) erkämpft werden. Die Ambivalenz jener Bewegung trat von Anbeginn zutage in der Rivalität einer staatssozialistischen Orientierung – in der deutschen Sozialdemokratie hegemonial verkörpert im Lassalleanismus – einerseits und der stets wieder unterliegenden revolutionären, anarchokommunistischen Strömung im Spektralband von Marxismus und Anarchismus andererseits.

Spätestens mit der Zustimmung zur nationalen Mobilmachung 1914 wurde die langjährige Illusion des Fortbestehens einer internationalistischen Organisation der europäischen Arbeiterklasse zerstört. Die einflussreichsten Teile der offiziellen Arbeiterbewegung – Sozialdemokratie und Gewerkschaften – verschrieben sich nach dem Sieg der „Oktoberrevolution“ und dem Ende des Ersten Weltkrieges einer etatistischen Politik, die auf ökonomistischen Vorstellungen beruhte und in Deutschland mit den alten Eliten des preußischen Kaiserreichs offen kollaborierte. Sie war endgültig zu einem Teil der parteiübergreifenden „Partei der Ordnung“ arriviert und schlug die in verschiedenen revolutionären Anläufen bis 1923 zum Ausdruck kommende „wirkliche Bewegung“ im Verbund mit Reichswehr und Freikorpsverbänden nieder. Schon 1933 offenbarte sich, dass die konterrevolutionär gewordene Sozialdemokratie sich durch diese „erfolgreiche“ Arbeitsgemeinschaft mit der protofaschistischen Bewegung auch ihr eigenes Totentuch gewebt hat. Der Klassenkampf war längst durch den Kampf um die Sitze im Parlament neutralisiert. Anstelle einer Selbstorganisation der Klasse hatte sich eine getrennte Schicht von Funktionären entwickelt. Die radikalen Bedürfnisse wurden zugunsten einer mechanischen Vorstellung des Hinüberwachsens in den Sozialismus verdrängt. So konnte auch die entbehrungsreiche (Selbst-)Disziplinierung für den Arbeitsprozess zu einem Beweis moralischer Überlegenheit der Arbeiterklasse beschönigt werden – „Sozialismus heißt viel arbeiten“ (Friedrich Ebert). Der Reformismus versucht alle Ausdrucksformen der wirklichen Bewegung in staatstragende Bahnen zu kanalisieren, indem ausschließlich die „gerechtere“ Transformation des bestehenden Staatswesens gepredigt wird, die Aufhebung der Staatlichkeit als solcher dagegen als Zielhöherer Vergesellschaftung geleugnet, als „Anarchismus“ stigmatisiert und in der eigenen Bewegung vernichtet werden muss. Das reformistische Versprechen der „sozialen Demokratie“ beruht stets auf dem demokratischen Wunderglauben und dem Untertanenglauben an den Staat, als dem vermeintlich einzigen Subjekt von Vergesellschaftung. Heute meint die Ankündigung von „Reformen“ durch die offizielle Sozialdemokratie ohnehin keineswegs mehr das gönnerhafte Versprechen auf ein paar Krümel vom gesellschaftlichen Reichtum, sondern vielmehr die Androhung einer absichtsvollen Verschlechterung der Lebensbedingungen. Es ist daher die Aufgabe diverser „visionärer“ Netzwerke, Projekte und NGOs, jenen nützlichen demokratischen Wunderglauben an die Reformierbarkeit des Kapitalismus durch Diskursmacht, zivilgesellschaftliche Hegemonie, Aushandeln, friedliche Vernetzung und „gute Ideen“ wachzuhalten.

Die kommunistischen Parteien, die sich in Folge der Oktoberrevolution und zumeist in Abspaltung von den reformistischen sozialdemokratischen Parteien entwickelten, blieben ebenfalls staatsfixiert. Gegen den Reformismus der Sozialdemokratie setzten sie eine besondere Version des Etatismus, der auf die gewaltsame Übernahme der Staatsmacht abzielte. Die berufsrevolutionäre Selbstdisziplin und die hierarchischen Parteistrukturen stellten die Keimform des späteren leninistisch-stalinistischen Staatsmodells dar und führten zu einer brutalen bürokratischen Diktatur noch über die elementarsten Bedürfnisse des Proletariats und der Bauernschaft – natürlich im Namen des Proletariats. Trotz ambivalenter revolutionärer Elemente bei Köpfen wie Luxemburg, Lenin, Trotsky etc. hat sich in dem seit 1918 „kommunistisch“ auftretenden Flügel der Arbeiterbewegung besonders in Gestalt der „Bolsheviki“ eine abgetrennte Herrschafts-Kaste von Funktionären entwickelt, welche an die Stelle einer Selbstorganisation der proletarischen und bäuerlichen Klassen trat, für die sie stellvertretend die Staatsmacht erobert hatte. Die bolschewikischen Spezialisten der Revolution führten einen zwar zunächst auf die kommunistische Weltrevolution hoffenden Coup durch („Oktoberrevolution“), der inmitten des Bürgerkriegsterrors Spielraum eröffnete für die soziale Revolution. Da die Partei der Bolsheviki aber ihrer organisatorischen Form nach von Anfang an auch eine entfremdete, spektakuläre Repräsentation des Proletariats darstellte, entmachteten sie schon bald die antistaatlichen Räte („Sowjets“) im Namen eines von ihnen begründeten „sowjetischen“ Parteistaatsapparates. So wurden auch alle kulturrevolutionären Anläufe einer Umwälzung des Alltagslebens bald kassiert. Statt der Selbstabschaffung des Proletariats im Weltmaßstab ist in diesem einen Lande schon bald die rasante und unter ungeheuren Menschenopfern vollzogene, umfassende Proletarisierung der Bevölkerung betrieben worden. Von den Kommandohöhen der alten russischen Staatssklaverei peitschten die Bolsheviki in ihrer Funktion eines Ersatzbürgertums in den zurückgebliebenen russischen Verhältnissen auf barbarische Weise eine nachholende, „sozialistische“ ursprüngliche Akkumulation durch. Die parallel und in dialektischer Wechselwirkung mit dem offenen Einschwenken des reformistischen Flügels der Arbeiterbewegung in das Lager der bestehenden bürgerlichen Ordnung vonstatten gehende Verkehrung der proletarischen Revolution in die stalinistische Konterrevolution – endgültig ab ca. 1922 – hat die Totalität der Revolutionsgeschichte zuerst gebrochen. Das kommunistische Projekt, der Abschluss der Vorgeschichte der menschlichen Gattung durch die Aufhebung ihrer Trennungen, ist dadurch soweit verfälscht worden, dass es epochal diskreditiert ist.

Gleichwohl diente dieses Modernisierungsprogramm in der Folgezeit zahllosen Nachahmern insbesondere in der „Dritten Welt“ als leuchtendes Vorbild. Nicht zuletzt aufgrund seines beeindruckenden Pyrrhussieges in „einem Sechstel der Erde“, seiner geschickten Propaganda und seiner verhältnismäßig großen Ressourcen konnte dieser pseudosozialistische Despotismus seit den 1920er Jahren auch große Segmente des nicht-reformistischen Teils der Arbeiterbewegung in den entwickelteren Ländern an sich binden. Die jenseits der reformistisch-staatssozialistischen Alternative von Pest und Cholera verbliebenen revolutionären Kräfte – Anarchistinnen und Anarchosyndikalistinnen, Räte- und Linkskommunistinnen – wurden spätestens im Spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) von der welthistorischen Bühne getilgt. Die drei Parteien der modernen Konterrevolution – bürgerliche (Sozial-)Demokratie, Stalinismus, Faschismus/Nationalsozialismus – können sich das, obwohl einander spinnefeind, als ihr gemeinsames Verdienst anrechnen.

Gegenüber dem Antisemitismus als dem Versuch einer barbarischen Erlösung der bürgerlichen Gesellschaft von ihren inhärentenWidersprüchen durch die Ausrottung der Jüdinnen und Juden blieben alle Fraktionen der Arbeiterbewegung, Reformisten, Stalinisten und das revolutionäre Lager, weitgehend blind, ohnmächtig und desinteressiert. In diesem Versagen liegt trotz allen gravierenden Unterschieden ihre negative Einheit und ihre Überkommenheit im Angesicht eines katastrophischen Geschichtsverlaufs begründet. Auch das Geschlechterverhältnis und die Problematik der libidinösen Ökonomie, also der Prozess der gewaltsamen Vermittlung der Triebwünsche der Subjekte mit den heteronomen Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft, wurden nur von Außenseiterinnen innerhalb dieser Strömungen aufgeworfen oder zum Nebenwiderspruch verharmlost. Der Anspruch auf das individuelle Glück wurde so auch in der Arbeiterinnenbewegung nicht konsequent formuliert und einmal mehr auf unbestimmte Zeit vertagt.

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Der Gesamtreproduktionsprozess der Gesellschaft unterliegt stets einer historisch spezifischen, gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die in den letzten Jahrtausenden entlang der Geschlechter patriarchal organisiert wurde. Die Geschichte der Herrschaft des Mannes über die Arbeitskraft der Frau vollzieht sich in den Formwechseln der patriarchalen Magdschaft, die von entsprechenden Wechseln in der Sphäre des Überbaus und der ideologischen Legitimationsformen begleitet werden. Immer wieder wurden die engen Spielräume des entfremdeten individuellen Seins aber auch überschritten, mal in ohnmächtigen Gesten von Vereinzelten, mal als wirkmächtiger Protest größerer Gruppen und sozialer Bewegungen.

Mit dem weltgeschichtlichen Auftritt des Kapitals als großem Gleichmacher begann die Auflösung der alten subsistenzbasierten Lebensform der Hauswirtschaft. Unbezahlte Hausarbeit und bezahlte Lohnarbeit fallen nun auseinander und werden in der Form der Kleinfamilie vermittelt. Frauen, Männer und Kinder wurden zu doppelt freien Lohnarbeiterinnen enteignet und müssen seither hoffen, dass das fremde Arbeitskraft einsaugende Kapital sie für seine Zwecke anwendet. Anders als die falsche Identifikation des Proletariats mit dem Arbeiter im Blaumann kolportiert, waren die frühkapitalistischen Erscheinungsformen des Proletariats stark weiblich geprägt. Auch in den gegenwärtigen Schüben der weltweiten Proletarisierung ist der hohe Anteil der weiblichen und kindlichen Lohnarbeiterinnen in den Sweatshops zwischen Mexiko und Bangladesch augenfällig. Dagegen wurden die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Frauen in die enge Sphäre des Hauses eingeschlossen. Hier sind sie wie eh und je einerseits der realen Haussklaverei ausgeliefert, andererseits für die Kultivierung eines idyllischen Sehnsuchtsortes zuständig, an dem sich müde Krieger im trauten Lampenlicht des Privaten die Wunden lecken dürfen. Die Gleichmacherei hat ihre Grenze beim Geschlecht: Selbst in den Metropolen der kapitalistischen Entwicklungszonen war die Frau bis in die 70er Jahre hinein juristisch abhängig vom Vater oder Ehemann – ein Zustand, der in weiten Teilen der Welt immer noch fortdauert. Die weibliche Arbeitskraft wurde und wird schlechter entlohnt, weshalb Frauen für die männlichen Proletarier eine bedrohliche Konkurrenz darstellen.

Die sich formierende sozialistische Frauenbewegung forderte die ökonomische und rechtliche Gleichstellung innerhalb der bürgerlichen Rechts- und Lohnarbeitsform, versuchte Arbeiterinnen, die von den Gewerkschaften der Männer ausgeschlossen waren, zu organisieren, mit der organisierten Arbeiterbewegung zu verbinden und die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse zu erkämpfen. Die meisten sozialistischen Anwälte und Anwältinnen der „Frauenfrage“ neigten dazu, diese hinter die „soziale Frage“ zurücktreten zu lassen, welche zuerst gelöst werden müsse – schon diese gängigen Sprachregelungen verraten die piefige Selbstzufriedenheit, den Paternalismus und die ökonomistische Borniertheit der Protagonisten. Galt dem Frühsozialisten Charles Fourier der Grad der weiblichen Emanzipation als das Maß der allgemeinen Emanzipation schlechthin, so verfiel die Arbeiterbewegung darauf, den Grad der Ausbeutung der Frau durch die Lohnsklaverei zum Maß ihrer Emanzipation zu erklären. Wo die Arbeiterbewegung es zum Herrn im Staate brachte, konnte auf Grundlage dieser Identifikation die egalitäre Verallgemeinerung abstoßender Lohnarbeit als Ausweis allgemeiner „Fortschrittlichkeit“ benutzt werden. Das bisschen Haushalt war da schon nicht mehr der Rede wert. An der Familie, historisch entstanden als Zellform des Privateigentums, in welcher der pater familias unbeschränkt über „seine“ Frauen und Kinder als Eigentum und Produktionsinstrumente verfügte, hielt der Malestream der Arbeiterinnenbewegung in aller Unschuld als Norm fest. Indem die Verpflichtung auf die monogame Ehe zum Bestandteil einer verspießerten sozialistischen Moral erklärt wurde, mussten auch in diesem gesellschaftlichen Lager alle sexuellen Orientierungen und Triebrichtungen, die nicht auf die Reproduktion der Familie gerichtet waren, als widernatürlich und dekadent gelten. Auch hier mussten die Menschen ihre polymorph-perversen libidinösen Bedürfnisse und Begierden, Leidenschaften, Triebe und Anlagen nach überkommenen sittlichen Maßgaben zu unterdrücken und zu verbergen lernen.

Die mangelnde Solidarität der männlichen Teile der Arbeiter(_)innenbewegung, ihr Unverständnis für die spezifischen Probleme der weiblichen Entfremdung und die Weigerung der Frauen, sich immer wieder mit Vertröstungen und nonchalanten Relativierungen abspeisen zu lassen, führte in den 1960er Jahren zu einer neuen Welle der Frauenbewegung, die der männlich dominierten Arbeiterbewegung offen und erklärtermaßen den Rücken kehrte. Die feministischen Elemente der wirklichen Bewegung begaben sich in eine Selbstsammlungsposition, die zuallererst die Abstoßung von jenen Verkörperungen des Patriarchats und eine autonome Selbstverständigung in einer Gegenöffentlichkeit ermöglichte.

Ausgehend von der realen Erfahrung der Existenz zweier polarer, normativer Geschlechtscharaktere formulierte der Feminismus eine Kritik an der ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimension der patriarchalen Arbeitsteilung und der verinnerlichten Geschlechtsidentitäten. Feministinnen denunzierten die physische und psychische Gewalt, die zur entsprechenden Modellierung der Subjekte aufgewendet wird. Bei Simone de Beauvoir verdichtet sich dieses Bewusstsein zu der Feststellung, dass man nicht als Frau geboren, sondern zu ihr gemacht wird, und war der Ausgangspunkt für die Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die alle Verhältnisse angriff, in denen Frauen verachtete, ja verächtliche und geknechtete, verlassene Wesen sind. Diese Einsicht in die Notwendigkeit einer analytischen Unterscheidung von sozialem und natürlichem Geschlecht war zugleich die Voraussetzung für zahlreiche defetischisierende wissenschaftliche Untersuchungen, die der Entfremdung auf dem Feld der Theorie überall den sicher geglaubten Boden unter den Füßen wegzog.

Die Herauslösung aus dem Spanischen Stiefel des Ökonomismus ermöglichte einen Dialog über alle Facetten des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Trennungen zwischen ihren Sphären gerieten ebenso in den Fokus der Kritik wie die überall anzutreffenden Male der Entfremdung in den verschiedenen Momenten der gesellschaftlichen Totalität selbst. Die Frauenbewegung wog alle Bereiche des modernen Alltagslebens und hat alle für zu leicht befunden. Nicht nur die Ökonomie und das Recht sollten umgewälzt werden: sie erkannte, dass die Sprache und der Umgang der Individuen miteinander, die Kindererziehung und die Wohnformen, die Architektur und der Städtebau, die Liebesbeziehungen und die Sexualität grundlegend verwandelt werden müssten, bevor sie menschlichen Ansprüchen genügen könnten. Da sie in nichts Vertrauen fassen konnte, was sie nicht selbst durchgearbeitet und verändert hatte, stürzte sie sich überall in zahllose praktische Experimente zur Neuerfindung des Alltagslebens.

Ihre immanente Grenze erreicht die Frauenbewegung, wo sie in den komplementären Positionen des Gleichheits- und des Differenzfeminismus erstarrt. War die Forderung nach Gleichheit zunächst auf die Gleichheit der Entfaltungsmöglichkeiten der Individuen gerichtet, firmierte der Feminismus zunehmend als eine progressive Form nachholender Entwicklung in den Metropolen, wo Gleichheit nur mehr die Forderung nach einer Integration in die bestehenden Apparate der Klassengesellschaft bedeutete. Gleichheit wurde so auf die Erringung der abstrakten Gleichheit vor dem bürgerlichen Recht zurückgestutzt, menschliche mit politischer Emanzipation verwechselt. Dieser Feminismus reproduziert die juristische Weltanschauung, den Aberglauben des bürgerlichen Citoyens, demzufolge sich die Trennungen der bürgerlichen Gesellschaft durch fromme Appelle an den Garanten dieser Trennungen, den Staat, lösen ließen. Die im Alltagsleben erfahrene reale Ungleichheit der Individuen überführt das bürgerliche Gleichheitsversprechen als partikulare und darum heuchlerische Phrase: In ihrem materiellen Lebensprozess bekommen die Menschen der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur am eigenen Leib zu spüren, zu welcher Gesellschaftsklasse sie gehören – sie sind auch mit Haut und Haar auf ihren partikularen sozialen Geschlechtscharakter zurückgeworfen.

Der Differenzfeminismus erkannte diesen Mangel der Gleichheitsposition, doch war seine Antwort selbst noch beschränkt. Der Kampf um die Abschaffung der realen Ungleichheit verkam zum Programm der abstrakten Umkehrung des androzentrischen Wertekosmos. Die naturwüchsig reproduzierte gesellschaftliche Trennung in zwei polare Geschlechtscharaktere wurde unter der Hand zu einem unhintergehbar Letzten verdinglicht. An die Stelle „männlicher“ Tugenden wie Mut und Tapferkeit, Egoismus und Durchsetzungsstärke, Konkurrenzstreben und Leistungswillen, Zweckrationalität und Verstandesdenken setzten die zum Sprachrohr der Weiblichkeitsideologie herabgesunkenen Teile der Frauenbewegung die Apotheose der „friedfertigen Frau“ hin zu Kommunikation und Empathie, Empfindsamkeit und Verständnis, Gefühl und Intuition sowie dem unbedingten Willen zur Harmonie. Wo unter Absehung von Klassengegensätzen und anderen Trennungen die identitätspolitische Beschwörung unmittelbarer Schwesterlichkeit Einzug hielt, wurde der Feminismus sogar zu einem neuen ideologischen Angebot illusorischer Gemeinschaft. Aus der Strategie einer autonomen Organisierung wurde vielfach eine Selbstverortung in Permanenz, die vergessen machen konnte, dass schließlich auch der Feminismus ein „-ismus“ ist, der aus der Not keine Tugend machen sollte.

Wenngleich die charakterlich entstellten „Herren der Schöpfung“ durch die Beschwörung des „ewig Weiblichen“ schmerzhaft an die Versagungen erinnert werden, die im Namen ihrer (Selbst-)Erziehung zur Härte nötig waren, bricht jenes Denken doch nicht mit der Geschäftsgrundlage der patriarchalen Zurichtung der Subjekte. Zwar ahnt der Differenzfeminismus, dass die menschlichen Gattungskräfte nur verkrüppelte und entfremdete Formen annehmen können, wo die Misogynie allein am idealtypischen Mann wertvolle Züge der menschlichen Gattung zu erkennen meint. Die Aufteilung der menschlichen Gattungskräfte in männliche und weibliche und die eifersüchtige Bewahrung des jeweils gesellschaftlich Zugeschriebenen als angestammtes Eigentum der Männer und der Frauen wird hier jedoch nicht angetastet. In der Sanktionierung, Stigmatisierung „unweiblicher“ Frauen und „effeminierter“ Männer, die aus dem jeweiligen Gendergehege ausbrechen, um von den verbotenen Früchten des jeweils anderen Geschlechts zu kosten, drückt sich das unbewusste Einverständnis solcher Spielarten des Feminismus mit den verdinglichten Formen geschlechtlicher Subjektivität aus. Dieses verkitschte Zerrbild des Weiblichen dient regelmäßig als Warte, von welcher aus die kalte Rationalität der „männlichen Ellenbogengesellschaft“ einer moralischen Kultukritik unterzogen wird. Wo der Rückgriff auf das Matriarchat sich mit Mutter Natur und ihren spirituellen Kräften verbindet, mündet dieser Feminismus in romantischen Antikapitalismus, dessen regressive Sehnsüchte er bedient.

Die queer-Bewegung bildete sich als radikalisierende Gegenströmung zu den Borniertheiten und Verstellungen der Frauen- und Schwulenbewegung und rief als solche zum Widerstand gegen die heteronormative Reglementierung der Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt auf. Ihre Kritik schloss auch die gegenseitige Diskriminierung innerhalb der institutionalisierten Homosexuellen- und Frauenbewegung ein. Sie ergriff Partei für alle durch die gesellschaftlichen Trennungen und identitären Zuweisungen unterdrückten, fragmentierten, verkannten und ausgeschlossenen Menschen. Sie wies auf die Trennungen zwischen Frauen hin und zeigte, dass das imaginierte Kollektivsubjekt „Frau“ kein harmonischer Rückzugsort sein kann. Die Frauenbewegung hatte zwar die Gewordenheit der Geschlechtscharaktere bereits herausgearbeitet, de facto aber größtenteils an der gesellschaftlich vorgefundenen, biologisch legitimierten Eindeutigkeit der Zweigeschlechtlichkeit festgehalten. Das Begehren war zwar ansatzweise aus seinem heterosexuellen Korsett gelöst worden, nicht jedoch aus seiner Bindung an die binäre Geschlechterordnung befreit worden. Die queer-Bewegung kämpfte für die Lebbarkeit von Formen der Geschlechtsidentität und des Begehrens, die nicht nur jenseits der Pflicht zur Reproduktion standen, sondern auch jenseits des Zwangs zur Zweigeschlechtlichkeit. Das Begehren, das in der bisherigen Geschichte der Gattung mannigfaltig repressiv reglementiert und auf gesellschaftliche Zweckmäßigkeit zugerichtet worden war, sollte in einer wahrhaft humanisierten Form der Sexualität zu seinem Recht kommen. Jenseits gesellschaftlicher Normierungen und natürlicher Schranken sollen sich die Individuen selbst in ihren Beziehungen entwerfen können, Sexualität soll zum Gegenstand lustvollen Spiels werden, in dem sich die Individuen selbst genießen. Dieses Ziel wurde keineswegs erreicht. Die queer-Bewegung ist mittlerweile ihrerseits weitgehend zu einer identitären Szene – driftend zwischen Marginalisierung und Mainstream – mit einem festen Set von Bildern, Codes und Lifestyles erstarrt. Während die queer people in den meisten Regionen der Welt weiterhin Mord und Totschlag ausgesetzt sind, konvergierte ihre kulturelle Etablierung in wenigen urbanen Metropolen mit den neuen Anforderungen des Kapitals an die geschlechtlich flexibilisierten social skills postindustrieller Kommunikationsmonaden. Nicht nur im studentischen Milieu, sondern auch im Niedriglohnsegment der „Dienstleistungsgesellschaft“ und bei leitenden Angestellten scheint eine Art repressiver Entnormalisierung in diese Richtung um sich zu greifen.

Von dieser Bewegung ist die queer theory als ihr ideologischer Ausdruck analytisch zu unterscheiden. Nach ihrem Entstehen schwang sie sich schnell vom Lieblingskind der linksakademischen Szene zu einem globalen Wissenschaftsparadigma empor. Die soziokulturelle Dimension des Geschlechts soll auch den Körper als physiologische und die Seele als psychische Seite des Geschlechts hervorbringen: Im allumfassenden Medium der Sprache schreibe sie sich materiell in die an sich unbestimmten und unbestimmbaren Körper ein. Geschlecht erscheint hier ausschließlich als Produkt symbolischer Ordnung und kann letztlich mit Willen und Bewusstsein performativ dekonstruiert werden. Das komplizierte Problem der Vermittlung von Natur und Gesellschaft wird so durch Wegkürzen eines Pols handstreichartig gelöst. Der akademische Genderkonstruktivismus kapituliert vor dem Problem der letztlich nicht aufzulösenden Bedingtheit des gesellschaftlichen Naturwesens Mensch durch die innere und äußere Natur und verfehlt das gesellschaftliche Sein. Die Doktrin der Allmacht der Zeichenregimes entlarvt diese Lehre als eine Variation idealistischer Metaphysik, deren usurpatorisches quid pro quo von Natur und Geist bewusstlos reproduziert wird. Die Hinwendung zu der bedeutsamen Frage, wie die modernen Geschlechterbilder – als Imagines und als Diskurse – von den Individuen angenommen werden und sich in die letzten Winkel der Körper einschreiben, bewahrt die queer theory nicht vor tiefgreifenden Fehlschlüssen, die mitunter fatale Konsequenzen haben: Ebenso wenig wie die Naturgrundlage der Gesellschaft selbst ist der materiell sinnlich begehrende Leib beliebig diskursiv konstruierbar. Das gesellschaftlich vermittelte individuelle Leiden zu heilen wird den Einzelnen aufgebürdet. Die individuellen Triebkonflikte sollen nicht durch eine veränderte gesellschaftliche Praxis, sondern durch eine technische Hilfe zur Selbsthilfe gelöst werden. Die individuelle Geschichte wird unter der neoliberalen Ägide der Selbsterfindung negiert. Diese Art der Leibverleugnung öffnet technokratischen Allmachtsvorstellungen Tür und Tor und wiederholt die Illusionen idealistischer Subjektphilosophie.

Der verengte Fokus der queer theory auf die angeblich alles strukturierenden Zeichen und Diskurse, die Fetischisierung des ironischen Spiels mit den vorgegebenen Normen und Identitätsmustern und die Fixierung auf die Sexualisierung der Geschlechter versperrt die Einsicht in die grundlegende Logik bürgerlicher Vergesellschaftung. Weder kann und darf die akademische queer theory die Ursache der Herrschaft und der identitären Geschlechterbilder in der Geschichte der entfremdeten Arbeit(-steilung) angeben, noch kann die reale Möglichkeit der ökonomischen und libidinösen Befreiung aller Menschen begriffen werden. Die Tatsache, dass die immer noch unabgeschlossene Vorgeschichte der Menschheit sich als Kontinuum von Herrschaft und Ausbeutung darstellt, verleitet sie zu dem apologetischen Schluss, diesen Zustand unter dem Topos der „Macht“ zum Schicksal zu verewigen. Damit gibt sie auch das Ziel einer Aufhebung der kapitalistischen sowie die Aussicht auf eine vernünftig eingerichtete Gesellschaft preis, die erst die ungeteilten materiellen Möglichkeiten zur freien Entwicklung der gesellschaftlichen Individuen bereitstellen kann, die sich Selbstzweck sind. Die großsprecherisch verkündete Subversion der performativen Praktiken entpuppt sich als Sturm im Wasserglas der Signifikantenketten; Ausschweifung und Spiel müssen einen mediokren, langweiligen Charakter annehmen, weil die Subversion sich mit den vom Kapital gebilligten zeiträumlichen Nischen begnügt. Wo die queer theory das sozialliberale Programm einer Repräsentation bislang marginalisierter und stimmloser Gruppen betreibt, arbeitet sie an der Verwirklichung des kapitalistischen Gleichheitsversprechens mit, das nie über eine Gleichheit in der Ungleichheit hinausführen kann. Überall dort aber, wo die Vertreterinnen der queer theory die vielfältigen Bedürfnisse konkreter Individuen dem völkischen Wunschbild einer „Vielfalt authentischer Kulturen“ opfern, die blutige Unterdrückung von Individualität in ihr Gegenteil umlügen, sind sie offen in das reaktionäre Lager übergelaufen.

Den Ausgangspunkt für eine materialistische Erforschung der Geschlechterverhältnisse bildet das materielle Natur-Sein des Menschen und die Vergesellschaftungsgeschichte der Arbeit – der Stoffwechselprozess zwischen Mensch und Natur als Basis des gesellschaftlichen Seins. Dabei sind die Teilungen des Geschlechts und der Arbeit, insbesondere von Hand- und Kopfarbeit, sowie andere historisch-genetisch zu rekonstruierende Teilungen der Gattungsgeschichte voneinander unablösbar. Ist die individuelle libidinöse Organisation letztinstanzlich formbestimmt durch die übergreifende ökonomische Gesamtorganisation, so darf dennoch die Analyse der Gesellschaft von ihrem Seelenende her keinesfalls außer Acht gelassen werden. Weder die ökonomische noch die libidinöse Dimension hat, isoliert und verselbständigt zum vor- oder übergeordneten Moment des gesellschaftlichen Widerspruchs, hinreichende Erklärungskraft. Die libidinöse Ökonomie, deren Kern genau die Sex-Gender-Beziehung ist, muss von der intimsten psychomentalen Eltern-Kind-Prägung bis in die gesellschaftlichen Produktions- und Verkehrsbeziehungen in sämtlichen Sphären des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse als strukturformend begriffen werden. Das heißt, dass sie zur ökonomisch-sozialen Basis der Gesellschaftsformation dazu gehört und sich mit der politischen Ökonomie der Gesellschaft verschränkt und durchdringt.

Daher ist die unauflösbare Dialektik von Geschlechtscharakteren und ökonomischen Charaktermasken ebenso zu ergründen wie der Zusammenhang von patriarchal strukturierter Arbeitsteilung und den häufig als getrennten Sphären vorgestellten Tätigkeitsbereichen von (kapital-)produktiver und Arbeitskraft-reproduktiver Arbeit außerhalb der direkten Produktionssphäre. Dabei sind die ungleichmäßigen globalen Entwicklungen der Organisation von Haus- und Familienarbeit in ihrem Zusammenhang zu analysieren.

Analog zur Geschichte der proletarischen Emanzipationsversuche wurde auch im Fall der Geschichte der Genderkämpfe das historisch Erlebte verdrängt und ist nur mehr in spektakulären Bildern gesellschaftlich präsent. Daher müssen die auf die universelle Entfaltung der Individualität gerichteten Elemente der Frauen- und Queerbewegung dem Vergessen entrissen und die Gründe für ihre fast vollständige Rekuperation selbsttätig aufgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang ist auch den Verschiebungen nachzugehen, die im Zuge des Verfalls jener Bewegungen zu beobachten sind. So wäre etwa der oftmals spleenig und unverhältnismäßig wirkende, heilige Ernst bei den verdinglichten Ersatzkonflikten um eine gendersensible Sprache vielleicht als Resultat der Zurückdrängung enormer Bedürfnisse auf ein viel zu beschränktes, erlaubtes Terrain zu verstehen.

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Das pursuit of happiness ist unteilbar; das unsägliche Unglück repressiver Geschlechtsnormierungen und -trennungen ist nur mitsamt seiner Basis im akkumulierten Elend der Klassengesellschaftsordnung abschaffbar. Die Kritik der politischen und der libidinösen Ökonomie müssen zwei Seiten derselben kommunistischen Aufhebungsbewegung sein. Die Freilegung der polymorph-perversen Triebstruktur der Individuen ausgehend von dem bisher erreichten kulturellen Niveau humanisierter Natur setzt die Bereitstellung der entsprechenden, heute längst vorhandenen und möglich gewordenen Mittel und Bedingungen durch eine kommunistische Zivilisation voraus. Die auf dem gesellschaftlichen Eigentum an Produktionsmitteln beruhende Assoziation, in der die freie Entwicklung der Einzelnen die Voraussetzung für die Entwicklung aller ist, kann und muss auch die repressiven Geschlechternormen der bürgerlichen Gesellschaft über den Haufen werfen. Nur unter diesen Bedingungen wird sich ein Leben nach Maßgabe der Bedürfnisse und Fähigkeiten der Individuen Bahn brechen, die bisher durch den beschränkten Zugang zum gesellschaftlichen Reichtum und den erzwungenen Charakter ihrer Arbeit unterdrückt werden mussten. Die vernünftig weltgesellschaftlich geplante Produktion und Verteilung ist dann der freien und schrankenlosen Entwicklung der Individuen dienstbar gemacht und zu der Aufgabe verpflichtet, die Mittel für ihre allseitige Produktion und Konsumtion bereitzustellen. So kann auch die Arbeit, die den Menschen bisher als Mühsal aufgezwungen wurde, zum ersten Lebensbedürfnis werden, wenn sie ihren abstoßenden Charakter verloren hat und tendenziell in eine lustvolle Tätigkeit, in die Selbstverwirklichung des Menschen als Betätigung seiner realen Freiheit umgewandelt wurde. Die Poesie als begrifflich-ästhetisches Ausdrucksmedium der Begierde nach einem derartigen Leben erschien als treibende Kraft in allen bisherigen proletarischen Revolutionsversuchen.

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Die Bibliothek soll dieser skizzierten Aufhebungsbewegung als Stützpunkt dienen, die im Gegensatz zu den im Dienst der herrschenden Klasse stehenden Ideologen die Fähigkeit zur intelligenten Anwendung des Wissens besitzt. Nicht weil dieser Bewegung jene intelligente Anwendung von vornherein garantiert wäre, sondern weil ihr Wissen nicht mehr im Dienst der kapitalistischen Produktion und ihrer staatlichen Garantie steht, welche die Quellen des gesellschaftlichen Reichtums untergräbt. Im Gegensatz zur bürgerlichen Wissensproduktion, die bewusst oder unbewusst für die herrschenden partikularen Zwecke arbeitet, hat die kommunistische Kritik alle Errungenschaften der bisherigen Geschichte auf ihren Sinn und ihre Brauchbarkeit für eine gesellschaftlich-humane und nachhaltige Produktion abzuklopfen. Die Voraussetzung für den Übergang zu einer rationellen und gemeinschaftlichen Regelung des Stoffwechselprozesses mit der Natur ist die eigenständige revolutionäre Theoriebildung durch die kosmopolitische Lohnarbeiter_innenklasse selbst: die rücksichtslose und permanente Kritik des Bestehenden, die sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet. Angesichts der Versprengtheit der kommunistischen Elemente in der Gegenwart wäre deren Kooperation und Assoziation, ausgerichtet an den Erfordernissen einer solchen Theoriebildung und Kommunikation als derzeit vorrangiges und sinnvoll praktizierbares Ziel anzugehen. Wir suchen deshalb den Dialog und die Zusammenarbeit mit allen Leuten, die unzufrieden sind mit der proletarischen Existenzlage und das Bedürfnis haben, sich von den herrschenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen einen realistischen Begriff zu machen. Ohne den Defiziten und Verwirrungen der revolutionären Theorie als der gegenwärtig gravierendsten gesellschaftlichen Unterentwicklung ein Ende zu machen, lässt sich kein Schritt in Richtung einer vernünftigen Aufhebung der globalen Misere vorwärts gehen.