Ein Gespräch über die Gelbwesten-Bewegung mit Davide Gallo Lassere von der Plattform für militante Untersuchungen (Paris)
Als der französische Präsident Emmanuel Macron im Oktober 2018 eine Steuererhöhung auf Diesel und Benzin verkündete, rechnete wohl kaum jemand mit dem, was in den kommenden Monaten passieren sollte. Die ausbrechende Revolte der Gilets Jaunes, der Gelbwesten, traf nicht nur die Regierung, sondern auch die traditionelle Linke völlig unerwartet. Uns faszinierten die wilde Bewegung, die sich jeder Repräsentation verweigerte.Zugleich konnten wir mit den Forderungen, Aktionsformen und Symboliken der Bewegung zunächst wenig anzufangen. In den kommenden Monaten entspann sich international eine lebhafte theoretische Debatte, die viel Licht in die sozioökonomischen Entstehungsbedingungen und den politisch-ideologischen Charakter der Bewegung gebracht hat – einige Beiträge und Resultate dieser Auseinandersetzungen haben wir im Juni 2019 in unserer Broschüre „Une situation excellente? Beiträge zu den Klassenauseinandersetzungen in Frankreich“ dokumentiert.
Während wir uns in Deutschland zwar Zugang zu klugen Lektüren verschaffen konnten, fehlte doch das unmittelbare Erlebnis der Teilnahme an der Bewegung und der Austausch über die praktischen Erfahrungen, die GenossInnen in und mit ihr gemacht hatten. Wir haben daher im Juni 2019 Davide Gallo Lassere von der Pariser Plattform für militante Untersuchungen nach Leipzig eingeladen, um mit ihm über die Erfahrungen und Organisationsversuche der französischen GenossInnen ins Gespräch zu kommen.
Davide, der ursprünglich aus Italien stammt, lebt seit vielen Jahren als prekärer Forscher und Aktivist in Paris. Seine Erfahrungen in den sozialen Kämpfen der Gegenwart reflektiert er auch schriftlich: sein Buch über die Bewegung gegen das kapitalfreundliche Arbeitsgesetz von Präsident Hollande erschien 2018 in deutscher Übersetzung im Verlag Die Buchmacherei unter dem Titel „Gegen das Arbeitsgesetz und seine Welt“.
Uns interessierte, wie seine Gruppe die Entstehung der Gelbwesten-Bewegung analysiert hat, welche praktischen Schlüsse sie daraus gezogen haben und wie sich ihr Vorgehen im Verlauf der Bewegung geändert hat. Wir verstehen die Diskussion mit Davide dabei auch als einen Verständigungsprozess über allgemeine Probleme einer kommunistischen Praxis im Angesicht zukünftiger sozialer Bewegungen.
Das Gespräch wurde Mitte Juni geführt und Anfang Juli noch einmal von Davide ergänzt. Wir haben es aus dem Französischen übersetzt.
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Zwei Samstage städtischer Unruhen – wer könnte da noch gleichgültig bleiben?
translib Davide, du bist aktiv in der Pariser Gruppe Plattform militanter Untersuchungen (Plateforme d’Enquêtes Militantes). Kannst du die Plattform kurz vorstellen? Wie ist eure Gruppe entstanden und was ist euer Selbstverständnis?
Davide Die Plattform ist ein aktivistisches Kollektiv der „Mituntersuchung“ und Intervention in soziale Kämpfe und ist im Jahre 2017, d.h. kurz nach der Bewegung gegen das Arbeitsgesetz entstanden. Das Kollektiv versucht, die Methode der militanten Untersuchung zu aktualisieren, die darin besteht, die theoretische Ausarbeitung nicht von der politischen Intervention zu trennen, und umgekehrt, die Ebene der Organisation nicht von der analytischen zu unterscheiden. Militante Untersuchungen zielen auf die wechselseitige Konsolidierung zwischen Theorie und Praxis, zwischen der Produktion von Wissen und der Produktion von Konflikten. Zuerst haben wir insbesondere mit militanten GewerkschafterInnen gearbeitet, aber diese Methode kann sehr wohl in jedem anderen Kontext oder Kampf Anwendung finden: in der Universität, in ArbeiterInnenvierteln, bei den Gelbwesten usw. (Anm. translib: Das Konzept der Mituntersuchung – italienisch: „conricerca“ – stammt ebenso wie das der „Militanten Untersuchung“ aus der kommunistischen Strömung des Operaismus, die sich in Italien seit den 1960er Jahren entwickelt hat.)
Tristesse am Kreisverkehr
translib Ihr habt bereits Ende November 2018 einen ersten Versuch der Einordnung der Gelbwesten gewagt, bei dem vor allem die Schlagwörter des „Schlachtfeldes“ und der „Gratwanderung“ im Zentrum standen. Zu welchen Einschätzungen seid ihr damals gekommen?
Davide Generell ist unsere Einschätzung, dass wir in Frankreich seit 2016, seit der Mobilisierung gegen das Arbeitsgesetz, eine Sequenz erleben, die von Kontinuitätslinien, aber auch von realen Brüchen gekennzeichnet ist. Von oben betrachtet scheint es klar, dass die Reformen von Präsident Macron diejenigen aus der Legislaturperiode von Hollande radikalisieren (Anm. translib: François Hollande von der Sozialistischen Partei war von 2012-2017 Präsident). Nehmen wir den Standpunkt von unten ein, dann ist das Auftauchen der Gilets Jaunes sicherlich auch eine Verlängerung des Widerstands gegen die neoliberalen Umstrukturierungsprozesse. Und dennoch gibt es einen qualitativen Sprung. Deshalb haben wir zu Beginn, wie du gerade hervorgehoben hast, das von den Gilets Jaunes eingeweihte politische Terrain als Schlachtfeld definiert, denn diese Bewegung ist von einer sozialen Zusammensetzung und von politischen Themen wie Steuern und Kaufkraft geprägt, die unsere traditionellen Interpretationsmuster sprengen.
Als Plattform tauchten wir sofort in die Bewegung ein, mit der Umsicht derjenigen, die es verstehen, in einer fremden und teilweise unbekannten Umgebung voranzuschreiten. Auf diese Weise hat sich der Stil der militanten Forscherin einmal mehr als sehr angemessen erwiesen: mit dem Versuch, die Bewegung von innen heraus zu unterstützen, zu transformieren und zu radikalisieren, anstatt sie von außen nach dem Grad der Übereinstimmung zu beurteilen, den sie in Bezug auf diesen oder jenen ideologischen Ansatz zeigt, der von vornherein die richtige antikapitalistische Linie liefert. Kurz gesagt: Wir stellten uns sofort in den Dienst der Bewegung, anstatt sie für ihren ‚unreinen Charakter‘ zu kritisieren, denn ihre Formen der Selbstorganisation, ihre Praktiken, ihre soziale und räumliche Zusammensetzung und ihre ökonomischen und politischen Forderungen erschienen uns von Anfang an äußerst kraftvoll und originell.
Zur Entstehung der Bewegung und ihrer sozio-räumlichen Zusammensetzung beziehe ich mich auf einen Text vom November 2018: „Sur une ligne de crête“ (Anm. translib: etwa „auf dem Gebirgskamm“ bzw. sinnbildlich: „eine Gratwanderung“), der von Notes from Below und dem Viewpoint Magazine unter dem Titel „On a Ridgeline“ ins Englische übersetzt wurde. Aus sozialer Sicht ist hervorzuheben, dass vor allem die verarmten Mittelschichten und Gesellschaftsschichten im Prozess der Proletarisierung diesen ungewöhnlichen Aufstand prägen: Lohnabhängige kleiner und mittlerer Unternehmen, Händler, Handwerker und die wachsende Fülle neuer Formen der selbständigen und prekären Arbeit, deren allgemeiner Unmut in der Materialität der Lebensbedingungen verwurzelt ist. Diese soziale Zusammensetzung erklärt teilweise die geografische Zusammensetzung der Bewegung. Aus territorialer Sicht stehen weder die Metropolen noch die proletarischen Viertel im Mittelpunkt der Mobilisierung, sondern peri-urbane Gebiete, die entfernten Vororte, die diffuse Peripherie. Diese halbländlich-halbstädtischen Räume bilden sowohl aus sozioökonomischer als auch aus politischer Sicht eine Vorhölle. Zwar ist das Wohnen hier billiger als anderswo, doch fehlt es an diesen Orten am meisten an öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Nutzung des Autos ist keineswegs die Wahl eines komfortablen Lebensstils, sondern eine reine Notwendigkeit. Daraus ergibt sich die Bedeutung des Protestes gegen die Erhöhung des Benzinpreises in der ersten Phase der Mobilisierung, bevor der Protest zu einer breiteren Infragestellung der bestehenden sozialen und politischen Verhältnisse wurde.
Abgesehen von diesen Aspekten sind uns in den ersten Wochen zwei weitere Elemente aufgefallen. Zunächst gibt es die Forderungen, die im Wesentlichen zwei grundlegende Punkte betreffen: mehr Geld und mehr Demokratie; mehr Lohn, mehr Einkommen einerseits, mehr Entscheidungsgewalt, mehr Autonomie andererseits. Samuel Hayat hat darüber im Dezember 2018 zwei sehr interessante Texte geschrieben: „Moral Economy, Power and the Yellow Vests“ und „The Gilets Jaunes and the Democratic Question“ (Anm. translib: beide Texte sind in deutscher Sprache in unserer Broschüre erschienen). Diese beiden Texte haben aber einen Zeitkern, der mit der ersten Phase der Mobilisierung zusammenhängt. Darüber hinaus stand zu Beginn der postideologische Charakter der Bewegung, die weder links noch rechts zu sein beanspruchte, im Vordergrund.
translib Ihr hattet im Dezember mit GewerkschafterInnen und antirassistischen Vorstadtkollektiven eine Art antikapitalistische Allianz auf den Pariser Gilets Jaunes Demos gebildet. Ein zentrales Merkmal der Gelbwestenbewegung besteht in ihrer anti-politischen Ideologie, der prinzipiellen Ablehnung des parteipolitischen Spektrums. Ist es unter solchen Bedingungen nicht aussichtslos und vielleicht auch nicht die Rolle von KommunistInnen, einen ‚linken Block‘ der Gelbwesten bilden zu wollen? Warum habt ihr euch dafür entschieden, ein solches Bündnis ‚von außen‘ zu bilden und damit in die Bewegung hinein zu gehen und wie würdest du den Erfolg dieses Vorgehens bewerten?
Davide Unser Ziel war es nicht wirklich, einen linken Block zu bilden. Ebenso wenig wollten wir einer Bewegung, die in ideologischem Analphabetismus versinken würde, eine gute Dosis antikapitalistischer Grammatik verleihen. Zwei Überlegungen veranlassten uns, diese heterogene Allianz ins Leben zu rufen, die dazu aufrief, mit den Gilets Jaunes auf dem III. und IV. Akt (Dezember 2018) zu demonstrieren. Erstens kamen die Gilets Jaunes bis Weihnachten im Allgemeinen nur an Samstagnachmittagen nach Paris, um die schönen Viertel im Westen der Hauptstadt zu erstürmen. Um sie die ganze Woche über anzutreffen, war es im Gegenteil notwendig, mehrere Dutzend Kilometer zu fahren und zu den Blockaden und Kreisverkehren zu gehen, die sich hier und da in der Pariser Großregion zu vermehren begannen. Es gab also zwei politische Optionen für uns: entweder in 30/40 km Entfernung von Paris Untersuchungen anzustellen oder zu versuchen, die Linien innerhalb der Metropole zu verschieben! Die zweite Hypothese wurde schließlich gewählt, und das aus gutem Grund. Diese Entscheidung basierte nicht nur auf der ökonomischen und politischen Zentralität der ‚Stadt des Lichts‘, sondern war auch Resultat unserer seit 2016 aufgebauten Verbindungen zu antagonistischen Gewerkschaftsbasen, zu autonomen Antifa- und Queergruppen, sowie zu dem antirassistischen Vorstadtkollektiv gegen Polizeigewalt Comité Adama. Deshalb haben wir mit all diesen Gruppen eine Generalversammlung in einem Pariser Gewerkschaftshaus nach dem II. Akt organisiert, die fast 800 Personen zusammenbrachte. Am Ende haben wir zwei Demo-Treffpunkte für den III. und IV. Akt beschlossen, zu denen dann mehrere tausend Personen kamen.
translib Ihr habt dann im Verlauf der Bewegung diesen ersten Versuch, als Bündnis in die Bewegung zu wirken, aufgegeben und seid stattdessen zu den Versammlungen gegangen und habt Untersuchungen durchgeführt. Warum habt ihr eure vorherige Praxis aufgegeben? War dies Ausdruck einer veränderten Analyse eurerseits oder einer Veränderung in der Bewegung oder beides? Welche Bilanz zieht ihr?
Davide Seit Januar sind wir in verschiedene Versammlungen geströmt, die in der Zwischenzeit in ganz Paris und seinen unmittelbaren Vororten wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Auf der einen Seite hatte die Stärke der Bewegung die Zurückhaltung der meisten Linken zunehmend gebrochen – abgesehen von den Nostalgikern der ArbeiterInnenklasse von gestern (wie einige trotzkistische Strömungen der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) oder der Gewerkschaften) oder von Teilen unserer radikalen Milieus, die in den Gilets Jaunes vor allem einen reaktionären Aufbruch kommen sahen. Die Aufgabe bestand also für uns nie darin, die Gilets Jaunes anzuweisen, sondern die Skeptiker zu erschüttern. Die Akte III und IV im Dezember haben genau das herbeigeführt: zwei Samstage städtischer Unruhen, die sich in Paris (aber auch in Bordeaux, Toulouse usw.) von morgens bis abends ausbreiteten, und zwar über fast ein Drittel der Stadt. Wer könnte gegenüber einem solchen Aufstand noch gleichgültig bleiben, außer den Strategen der CGT (Conféderation générale du travail; Anm. translib: zweitgrößter Gewerkschaftsbund Frankreichs, linke Richtungsgewerkschaft, die früher der Kommunistischen Partei nahestand)?
Andererseits bedeutete für uns die Tatsache, regelmäßig mit Gelbwesten auf den Versammlungen in Kontakt zu treten, weniger eine kollektive Umentscheidung, als vielmehr die Verwirklichung einer Chance. Es handelte sich also nicht um eine taktische Umkehrung, sondern um einen Phasenwechsel, der durch die geografische Ausdehnung der Proteste auf die Pariser Metropole bestimmt wurde. Versammlungen, die einmal pro Woche mehrere Dutzend Gilets Jaunes zusammenbringen können, sind die Kerne der Konfrontation und Selbstorganisation der Bewegung; sie sind die Orte des Austauschs, in denen politische Perspektiven bestimmt und Praktiken erweitert werden. Hier finden wir das Herzstück der Gilets Jaunes: Es werden Bande der Solidarität aufgebaut und kollektive Intelligenz ausgeübt. Und immer wieder führen die Praxis der Horizontalität, der Wunsch nach Reterritorialisierung der Politik und der Wille, selbst aktiv zu werden, zu konkreten Vorschlägen verschiedener Art: Planung von Aktionen unter der Woche, Planung der samstäglichen Proteste, Schreiben von Aufrufen oder Texten und vor allem Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen – es ist ein Beziehungsgeflecht, das den Zusammenhalt der Gruppe fördert und die Prozesse der Subjektivierung vertieft. In einer Bewegung wie der der Gilets Jaunes politisch engagiert zu sein, bedeutet zwangsläufig, sich in einer lokalen Versammlung zu engagieren.
Smartphones waren unverzichtbar
translib Die organisatorischen Keimzellen der Gelbwestenbewegung waren ja nicht zuletzt Facebook-Gruppen. Soziale Medien können zwar zeiträumliche Grenzen der Organisierung überwinden. Studien zeigen aber auch, dass gerade die aktiven Kerne der Gilets Jaunes im Gegensatz zu ihren eher passiven UnterstützerInnen im Internet weniger anfällig für xenophobe Einstellungen sind. Außerdem scheinen die sozialen Medien den verschwörungstheoretischen Dimensionen der Bewegung Vorschub geleistet zu haben, etwa nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf einen Straßburger Weihnachtsmarkt im Dezember 2018. Wie schätzt ihr die Bedeutung der sozialen Medien für die Mobilisierung und die Verständigungsprozesse der Bewegung ein? Welche Möglichkeiten und Schwierigkeiten erwachsen aus diesem Kommunikationskanal? Wie seid ihr damit umgegangen?
Davide Die Organisationsstruktur der Bewegung ist komplex und vielfältig. Um es kurz zu machen, können wir sagen, dass sie aus zwei Teilen besteht, mit spezifischen Untergliederungen. Es gibt zum einen die kollektiven Versammlungen und zum anderen die sozialen Medien. Was die sozialen Netzwerke betrifft, so muss ihre positive Rolle in Bezug auf Aktivierung, Kommunikation oder Gegeninformation anerkannt werden. Was die kollektiven Versammlungen anbelangt, so ist es wichtig, die Vielfalt ihrer Formen entsprechend den verschiedenen geografischen Gebieten hervorzuheben. Kurz gesagt: Ein Kreisverkehr in der Mitte von ‚la France profonde‘ hat nicht genau die gleiche soziale und politische Zusammensetzung, die gleichen Anliegen und Organisationsmodalitäten wie eine Versammlung im Toulouser Gürtel. Dies ist eine der Hypothesen, die wir am letzten Wochenende, bei der dritten „Versammlung der Versammlungen“, untersucht haben. (Anm. translib: la France profonde, dt. das tiefe Frankreich. Gemeint ist die französische Provinz. Die Metropolregion Toulouse ist ein wichtiger Technologie- und Industriestandort).
Um auf die sozialen Medien zurückzukommen: diese Instrumente sind die Grundlage für die kurzfristige Mobilisierung und rapide Verbreitung von Inhalten außerhalb jedes institutionellen Rahmens. Ihnen ist es zu verdanken, dass die Gilets Jaunes in der Lage waren, autonome Formen der Kommunikation gegen die Mainstream-Informationswächter zu entwickeln; Smartphones waren ein unverzichtbares Instrument, um polizeiliche Gewalt( anzuprangern oder um bei Demonstrationen oder Aktionen Facebook-Livestreams zu machen. Zu denken, dass man heutzutage ohne Smartphone Politik machen könnte, ist zunehmend naiv. Telegram-Gruppen sind schnell unumgänglich geworden, aber auch die Facebook-Seiten, auf denen Umfragen gestartet werden und auf denen sich Gilets Jaunes täglich begegnen, haben eine sehr wichtige Rolle gespielt.
Es ist natürlich klar, dass diese Werkzeuge das Auftreten des Keybord Man erleichtern, der Hass und Hetze im Internet verbreitet. Dieses Phänomen scheint allerdings bei den Gilets Jaunes nicht weiter verbreitet zu sein, als bei Lesern der bürgerlichen Presse (es genügt, einen kurzen Blick in die Kommentarspalten zu Artikeln über Migration zu werfen). Wie du gerade gesagt hast, und das ist eine sehr interessante Frage, gibt es einen bemerkenswerten Unterschied in Bezug auf die politischen Orientierungen zwischen den verschiedenen Kreisen, aus denen sich die Bewegung zusammensetzt: Der harte Kern, der fast täglich organisiert ist, ist weit entfernt von Verschwörungstrends, während SympathisantInnen sich viel leichter an diese völlig verzerrten Vorstellungen der Realität halten können. Analysen der Zusammensetzung der Stimmen bei den letzten Europawahlen bestätigen diese konzentrische Struktur der Bewegung. Das heißt, die aktiven Kerne haben entweder gar nicht oder links gewählt; die SympathisantInnen haben tendenziell den Rassemblement National, ehem. Front National, gewählt.
Was uns betrifft, so haben wir Twitter z.B. wenig genutzt; wir sind in einigen Telegram-Gruppen; wir haben einige Gilets Jaunes-Facebook-Konten; und wir haben hauptsächlich versucht, über die Verbreitung von Texten hinaus eine ausführliche Nachbereitung der Demonstrationen und Aktionen zu gewährleisten.
Flashballs – Der Staat verstümmelt die Körper der Widerspenstigen
translib Du hast das Thema Polizeigewalt gerade schon angesprochen. Kannst du noch etwas mehr zur Repression erzählen, der die Bewegung ausgesetzt ist?
Davide Die Polizeigewalt und die juristische Repression waren von Beginn an zentrale Aspekte der Bewegung. Die Repression lässt sich wie folgt beziffern: ungefähr 10.000 Verhaftungen, mehrere tausend Ingewahrsamnahmen, mehrere hundert Gefängnisstrafen mit Freiheitsentzug, 250 schwere Kopfverletzungen, 23 Personen mit einem verlorenen Auge und fünf Personen, die aufgrund von TNT-geladenen Granaten eine Hand verloren haben. Im Februar hat es Demonstrationen explizit gegen Polizeigewalt gegeben, bei denen unter anderem antirassistische Vorstadtkollektive, die für die Aufklärung der Morde an jungen Männern aus den Vororten kämpfen, an vorderster Stelle präsent waren. Die Verletzten haben sich ihrerseits zu dem Kollektiv les mutilés pour l’exemple (Die Verstümmelten als Beispiel) zusammengeschlossen. Darüber hinaus können wir in der Rechtsprechung eine Verschiebung vom Strafrecht zum Zivilrecht konstatieren, was dazu führt, dass es im Verhältnis relativ geringe Freiheitsstrafen gibt (zwei bis drei Monate), dafür aber extrem hohe Geldstrafen (mehrere zehntausend Euro). Auf diesen Aspekt der Repression wird die Plattform im September 2019 in einem neuen Text zurückkommen.
Antisemitische Gelbwesten zeigen den Quenelle-Gruß
translib Lass uns noch einmal auf die reaktionären Tendenzen in der Bewegung zurückkommen. Während die rassistischen und homophoben Aktionen und Verlautbarungen, die zu Beginn der Auseinandersetzung stärker zu beobachten waren, offenbar zurückgingen, treten schließlich Verschwörungsdenken und damit verbundene antisemitische Ressentiments stärker zu Tage. Zuletzt sorgte im Februar der Angriff auf den jüdischen Philosophen Alain Finkielkraut für Aufsehen. Bereits zuvor gab es mehrere Vorfälle, bei denen antisemitische Lieder und Grüße angestimmt und gezeigt oder die jüdische Kontrolle der Medien und der Banken halluziniert wurden. So riefen einige Gelbwesten im Januar zu einer Blockade der Rothschild-Bank in Lyon auf. Während die organisierte Rechte immer wieder durch antifaschistische Interventionen aus den Protesten gedrängt werden konnte, tut sich die Linke bekanntermaßen schwer mit reaktionären Kräften, mit denen sie zumindest einige ideologische Versatzstücke (Antiimperialismus, Antizionismus, Fokus auf das sogenannte Finanzkapital) teilt. Wie seid ihr mit den reaktionären Tendenzen in der Bewegung umgegangen? Wie hat die Linke auf die antisemitischen Vorfälle reagiert?
Davide Wir haben jede pastorale Haltung, die darauf abzielt, ein gutes Klassenbewusstsein (bzw. Rassismus- und Geschlechterbewusstsein) von außen einzuführen, vermieden. Was den Antisemitismus betrifft, so haben wir auf drei Ebenen gehandelt und in drei zentrale Orte der Bewegung interveniert, nämlich in soziale Netzwerke, auf Demonstrationen und lokalen Versammlungen:
Während der Weihnachtsferien haben wir zum Beispiel einen Facebook-Post geschrieben, der den Antisemitismus der Bewegung kritisiert und ihn zunächst über eigene Gelbwesten-Accounts gestreut, die seit Beginn der Bewegung ad hoc erstellt wurden. Dann haben wir diesen Post auf der Facebook-Seite der Plattform veröffentlicht und in andere Telegram- und Facebook-Gruppen gestreut.
Im Januar haben wir diesen Facebook-Post in einen Flyer verwandelt, davon mehrere tausend Exemplare gedruckt und bei zwei Demonstrationen verteilt – zu einer Zeit, als die extreme Rechte die Demonstrationen in Paris normalisiert hat, indem sie die Demonstration bei den Behörden angemeldet und eigene Ordner an der Spitze der Demo aufgestellt hatte.
Ende Januar wiederum haben wir uns aktiv an der Spaltung der Rungis-Versammlung – der Hauptversammlung von Paris – beteiligt, die damals etwa hundert Gilets Jaunes umfasste. Jenes Drittel der TeilnehmerInnen, die rechtsoffene Positionen vertraten, konnten im Zuge der Spaltung schließlich ausgeschlossen werden. Dieser Bruch erfolgte nicht nur unter dem Druck der äußeren Umstände, aufgrund der bewegungsinternen Skandalisierung der rechten Ordner auf den Pariser Demos. Er erfolgte auch, weil wir dank unserer ständigen politischen Präsenz eine Legitimität aufbauen konnten, die es uns erleichtert hat, die Bekämpfung von rechten Positionen auf die Agenda zu setzen. Wenn wir einfach von außen von heute auf morgen in die Versammlung geplatzt wären, hätten wir sicherlich relativ unvermittelt eine Reihe von Argumenten für die Abgrenzung von dieser oder jener reaktionären Position vorgetragen und das hätte sicher nicht so gut funktioniert. Letztendlich hat angesichts des, sagen wir mal, ökumenischen Charakters der Gilets Jaunes, der die Inklusivität der Bewegung für alle zu einem zentralen Aspekt macht, ein anderes Argument gut funktioniert: Denn es sind die Rechten, die spalterisch sind und nicht wir; ihre Anwesenheit bedeutet den faktischen Ausschluss vieler Anderer von der Versammlung.
Um auf deine Frage zur Linken und dem Antisemitismus einzugehen, so müssen wir uns erstmal darüber im Klaren sein, was mit links gemeint ist. Die linkspopulistische Partei La France Insoumise hat nicht wirklich in die Bewegung interveniert, abgesehen von Jean-Luc Mélenchons unterstützenden Äußerungen nach den Dezember-Riots. Erbärmlich war die Verteidigung des populistischen Internetstars Etienne Chouard durch einen Funktionär von La France Insoumise. Chouard ist bekannt durch sein Engagement für das direktdemokratische Volksreferendum (RIC), das auch bei den Gelbwesten phasenweise sehr beliebt war. Er ist aber auch durch Tendenzen zur Holocaustleugnung und Kontakte zur radikalen Rechten aufgefallen.
Die anderen Parteien der bürgerlichen Mitte riefen hingegen am 19. Februar nach dem Vorfall mit Finkielkraut zu einer Kundgebung gegen Antisemitismus auf, auf der sogar die Präsenz des Rassemblement National von Marine Le Pen toleriert wurde. Zu diesem Zeitpunkt sind einige Gilets Jaunes mit antisemitischen Gesten und Holocaust-leugnenden Symbolen auf ihren gelben Westen gesichtet worden, die auf den antisemitischen Humoristen Dieudonné zurückgehen. Es ist allerdings auch zu antisemitischen Vorfällen außerhalb der Bewegung gekommen – z.B. der Angriff auf eine Synagoge, die Schändung eines jüdischen Friedhofs –, für die anschließend die Gelbwesten angeprangert wurden, obwohl kein Zusammenhang hergestellt werden konnte.
Die trotzkistische Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) und andere antirassistische Fraktionen hingegen riefen in Reaktion auf die bürgerliche Kundgebung zu einer Gegenkundgebung auf, mit der Parole „Gegen Antisemitismus und alle Formen von Rassismus“. Diese Kundgebung wurde wiederum heftig kritisiert von den Juives et juifs révolutionnaires – den revolutionären Jüdinnen und Juden, deren Facebook-Post ihr in eurer Broschüre übersetzt habt – und zwar aus drei Gründen: Erstens, weil zu der Kundgebung die post-koloniale Gruppe Parti des indigènes de la République (Partei der Indigenen der Republik) eingeladen wurde, für welche die Kritik des Antisemitismus untrennbar mit der Kritik der Politik des Staates Israel verbunden ist; zweitens wurde die Kundgebung als opportunistisch kritisiert, da sich die ‚Linke‘ sonst auch nicht für Antisemitismus interessiere; und drittens wurde beanstandet, dass die Kundgebung einen Fokus darauf gelegt hat, wie der Staat die antisemitischen Vorfälle zu propagandistischen Zwecken gegen die Bewegung instrumentalisiere, womit das eigenständige Problem des Antisemitismus auf der Kundgebung nicht ernst genommen werde.
Jedenfalls wurde aufgrund dieser öffentlichen Skandalisierung des Antisemitismus das Problem innerhalb der Bewegung derart stark aufgeworfen, dass die Vorfälle nun tatsächlich zurückgingen. Die ständigen Diskussionen über solche Fragen und Probleme haben also vorerst immer dazu beigetragen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung bewegen. Wir haben beispielsweise auf der Rungis-Versammlung etwa drei Wochen gewartet, bevor wir die Gruppe zur Spaltung und zur Ablehnung der faschistoiden Verschwörungstheorien gedrängt haben. Diese Entscheidung haben wir auf der Grundlage von drei Aspekten getroffen: Zum einen erlangten wir mehr und mehr Legitimität innerhalb der Gruppe; zweitens kam der äußere Druck hinzu, da die Faschos die Organisation und den Ablauf der Demos an sich reißen wollten; und schließlich gab es deswegen zunehmend Spannungen innerhalb der Rungis-Versammlung selbst.
translib Die Gilets Jaunes haben sich der Kooptierung durch Gewerkschaften und Parteien sowie durch selbsternannte Führer erfolgreich verweigert. Sie haben ohne diese Repräsentanten eine ansehnliche Mobilisierung auf die Beine gestellt, zahlreiche Besetzungen organisiert und sich auch durch die brutale Repression nicht einschüchtern lassen. Die Regierung musste Zugeständnisse machen und schien zeitweilig mit der Situation überfordert. Die Leute scheinen in einer Situation des sozialen Aufruhrs ganz gut zu wissen, was zu tun ist. Welche Rolle misst du der autonomen Linken für die Radikalisierung der Bewegung zu?
Davide Ich finde es zunächst interessanter, die Frage andersherum zu stellen, also inwiefern die Gilets Jaunes die linksautonomen Praktiken, die in Frankreich zwischen 2016 und 2018 so wichtig wurden, aufgegriffen haben – denn die Gilets Jaunes können in mehrfacher Hinsicht als eine hybride autonome Bewegung betrachtet werden. Unter diesem Gesichtspunkt lohnt es sich, die drei wichtigsten Praktiken in den Blick zu nehmen, derer sich die Bewegungen in Frankreich seit 2016 bedienen, nämlich: Demonstrationen, Blockaden und Versammlungen.
Zu den Demos: Mit den Gilets Jaunes werden die Demonstrationen nun nicht mehr in eine im Vorhinein orchestrierte Demonstrationsordnung kanalisiert, wo der Antagonismus dann weitgehend kontrolliert ausbricht. Was wir erleben, ist ein echtes Ausufern der Demonstrationszüge; wir sehen schlicht und ergreifend einen Überfall auf die schicken und großbürgerlichen Viertel, die ohne jegliche polizeiliche Einhegung angegriffen und geplündert werden. Das hat sich auch auf die Polizeistrategie ausgewirkt. Was die Blockaden betrifft, so sind drei Aspekte wichtig. Erstens haben die Gilets Jaunes-Demonstrationen vielerorts als Blockade von Konsumorten gewirkt etwa von Geschäften, Galerien, Restaurants, Museen, der gesamten Champs Elysées. Zweitens gab es explizite Blockaden von Warenströmen in der Zirkulation (Amazon, Logistikzonen und Häfen). Drittens fällt das fast völlige Fehlen konventioneller Blockaden in der Produktionssphäre auf. Dies war eine der Schwächen der Gilets Jaunes. Die Versammlungen schließlich sind meiner Einschätzung nach eines der stärksten Bruchelemente im Vergleich zur vorherigen Sequenz der Kämpfe.
Die Rolle der Autonomen in der Bewegung bestand vor allem in der Vermittlung praktischen Wissens: bspw. die Notwendigkeit von verstärkten Transpis auf den Demos; das Wissen darum, dass man bei der Verhaftung die Aussage verweigert; das Aufbauen von selbstorganisierten Demosanitäter-Gruppen; die Frage, welche Kreisverkehre aufgrund ihrer Position im Produktionsprozess strategisch sind; wie schreibt man ein Flugblatt etc.
Aufruf zur ersten Versammlung der Versammlungen in Commercy, Januar 2019
translib Eine der bemerkenswertesten Aspekte dieser Bewegung besteht mit Sicherheit in dem Durchhaltevermögen, mit welchem sie die falschen Zugeständnisse der Regierung abblitzen ließ. Hierbei mündete die Ablehnung von Repräsentationsinstanzen in den Versuch, eine selbstorganisierte Koordinierungsstruktur in der Bewegung aufzubauen, die sog. Versammlung der Versammlungen. Wer sind die AkteurInnen dieser Versammlungen? Haben sie mitunter eine geografische Dimension, bspw. gewerkschaftliche Bastionen des Landes wie Le Havre oder St Nazaire? Inwiefern haben diese Orte der inhaltlichen und strategischen Verständigung eine bewusstseinsbildende Wirkung gehabt und wie ist der aktuelle Stand der Versammlungsdynamik?
Davide Die Herausforderungen der kommenden Monate werden zweifellos die autonome Strukturierung der Bewegung betreffen. In dieser Hinsicht haben wir unseren Leitartikel von April mit der Feststellung abgeschlossen, dass drei Aspekte unserer Meinung nach zu dieser Strukturierung beitragen: erstens, der Aufbau von Verbindungen zwischen den verschiedenen populären Versammlungen, die auf lokaler Ebene vertreten sind; zum zweiten sollten die Versammlungen mit anderen Kämpfen (Gewerkschaften, AntirassistInnen, FeministInnen, ökologische Kämpfe, Studierende) verbunden werden; schließlich die Artikulation zwischen den antagonistischen Höhepunkten, die das politische System destabilisieren, und der Blockaden, die die Ökonomie schwächen. Die Kombination dieser drei Perspektiven stellt die Herausforderung der kommenden Monate dar: Wie können wir sicherstellen, dass die Bewegung immer tiefer in sozialen und geografischen Räumen Fuß fasst und sich im Laufe der Zeit mit noch mehr Schlagkraft vermehrt, ohne ihre eigenen Eigenschaften aufzugeben, die ihre Stärke ausmachen?
Wenn wir die Dinge mit Blick auf die immanente Neuordnung der Bewegung betrachten, scheint uns die Konstituierung einer Versammlung der Versammlungen, die sich regelmäßig von einer Ecke Frankreichs zur anderen bewegt, eine ziemlich wichtige Perspektive zu sein. Ein Erfolg auf diesem Weg war die zweite Versammlung der Versammlungen in St. Nazaire im vergangenen April, die 230 lokale Versammlungen mit 800 Delegierten aus ganz Frankreich zusammenführte.
Eindrücke von der dritten Versammlung der Versammlungen in Montceau-les mines
Die dritte Versammlung der Versammlungen (Assemblée des Assemblées, kurz: ADA) fand Ende Juni statt. Wie bei den zwei vorherigen ADAs konnte auch diesmal jede lokale Versammlung zwei Delegierte entsenden (Mann und Frau) sowie zwei beobachtende Personen (Mann und Frau). Im Zuge der Debatte gab es sechs Schwerpunkte: das Referendum gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen; die Frage des Antikapitalismus; die lokalen Versammlungen; die Aktionen; die ADAs selbst, sowie die Frage der Zusammenführung mit anderen sozialen Kämpfen, gewerkschaftlichen, ökologischen und antirassistischen (convergence des luttes). Die Beteiligung war mit 700 Gelbwesten, vor allem aus dem Osten und Südosten Frankreichs, aber auch aus anderen Regionen, sehr hoch, sodass insgesamt mehr als 250 lokale Versammlungen repräsentiert wurden. Wir haben als Plattform dazu drei längere Facebook-Posts geschrieben (I, II, III) und werden Mitte Juli einen Kurzfilm und eine Analyse zu diesem Treffen veröffentlichen.