Der antiautoritäre Kommunismus in Argentinien – ein Einblick
Zwei GenossInnen aus der translib waren für ein paar Monate in Argentinien. Um einen Eindruck von der Zusammensetzung der dortigen Linken und ihren Streitereien zu geben, haben sie ein programmatisches Flugblatt von einer der interessantesten Gruppen übersetzt.
Einleitung der ÜbersetzerInnen
Im folgenden dokumentieren wir ein kurzes Flugblatt der Gruppe Nodo (Colectivo de Coorganización Militante) aus Buenos Aires/Argentinien, das aus Anlass des Todes von Hugo Chávez, der Ernennung des neuen Papstes und den Reaktionen der argentinischen Linken auf die Ereignisse geschrieben wurde. In diesen Reaktionen wurde der Tod Chávez beklagt und Hoffnungen über eine Entwicklung der Kirche nach links laut… Mit der Übersetzung des Textes wollen wir auf diesen kleinen Zusammenhang aufmerksam machen, da er sich in vielversprechender Weise von den vorherrschenden Strömungen der argentinischen Linken untrerscheidet. Im Zentrum der theoretisch/praktischen Tätigkeit steht die Selbstorganisation und die kollektive Selbstbildung der Lohnabhängigen, jenseits der trotzkistischen und chavistischen/guevaristischen Parteien und gegen die Gewerkschafts- und Universitätsbürokratie. In Argentinien gibt es neben der vorherrschenden linksnationalistischen Regierung und den integrierten Gewerkschaftsbürokratien, vor allem zwei wahrnehmbare Lager, die sich als subversive Pole gerieren: Hier wären auf der einen Seite die trotzkistischen Parteien zu nennen, die sowohl in ihrer Kritik des Kapitalverhältnis als auch in der Organisationsfrage auf dem Stand von Lenin und Trotzki stehengeblieben sind. Sie proklamieren die Formierung des Industrieproletariats unter Führung einer starken Partei, um die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen und dadurch die seit knapp 100 Jahren anhaltende Stagnation und Verfaulung der Produktivkräfte zu überwinden. Ihr ungetrübter Glaube an die Diktatur der Partei, die revolutionäre Opferbereitschaft und das Industrieproletariat nimmt sich anachronistisch aus, hält aber nicht unbedeutende Teile der Militanten in seinem Bann. Zugutehalten kann man ihnen, dass sie die Bewegung der Fabrikbesetzungen von 2001ff. und andere Arbeitskämpfe logistisch unterstützen. Für selbige interessieren sich die Gruppen auf der anderen Seite des Spektrums dagegen weniger, tragen jedoch Che und Chávez auf ihrem Banner vor sich her und versuchen sich in erster Linie an der lokalen Organisation der BewohnerInnen städtischer Elendsviertel und der Bauern, von denen man dachte, sie seien ein ausgestorbenes Relikt vorkapitalistischer Zustände. Ihnen wird jeder Regierungswechse, der mit viel antiimperialistischem Trara ein wenig umverteilt zur lateinamerikanischen Revolution. Obwohl sie viel von selbstorganisierten Kämpfen von unten reden, zeichnen sie sich durch ein immenses Vertrauen in den Staat aus, den sie am liebsten von einem großen Führer geleitet sehen wollen. In diesem Panorama entwickeln die als nodo assoziierte Grüppchen ihren undogmatischen Kommunismus, proklamieren die autonome Selbstorganisation an Uni und Arbeitsplatz und bemühen sich um die Aktualisierung einer kritischen Gesellschaftstheorie. In Absetzung vom Parteimarxismus und dem Linksetatismus versuchen sie, sich Marx und andere Autoren befreit von den gängigen Schemata anzueignen. De Verankerung an der Universität merkt man der Gruppe an, die zum einen vor einigen Jahren ein selbstorganisiertes Uniseminar zu gesellschaftskritischer Forschung ins Leben gerufen hat, deren Inhalt von den Student_innen jedes Semester selbst erarbeiten. Zum anderen initiiert nodo Lesekreise zum Kapital, Hegelscher Logik und Psychoanalyse, die unabhängig voneinander, selbstverwaltet und basisdemokratisch oft mehrere Jahre bestehen. Interessant ist bei alldem jedoch die fehlende Selbstbezogenheit des studentischen Milieus wie sie in Deutschland so vorherrschend ist. Die Reflexionen und Analysen drehen sich fundamental um die Frage der Überwindung der Lohnabhängigkeit als gesellschaftlichem Schicksal. Diese Selbstverortung innerhalb der Klassengesellschaft ist ein allgemeines Charakteristikum der studentischen Militanz in Argentinien. Dies liegt sicherlich in der Erfahrung begründet, nie ein Student als ein außerhalb der Lohnarbeit hockendes Wesen, sondern fast immer ein studierender Lohnarbeiter zu sein. In ihrer Zeitschrift dialéktica, die einmal im Jahr erscheint, liest man unter anderem über die Analyse und Kritik der akademischen Wissensproduktion, Überlegungen zu gegenwärtigen revolutionären Kämpfen, Notizen über Subjektivität und Begehren in der bürgerlichen Gesellschaft. Der folgende Text wurde in der dialéktica XXII-25 (2013) dokumentiert. Wir haben ihn übersetzt, um den an der argentinischen Situation interessierten einen Anhaltspunkt anzubieten.
Das Flugblatt ///
Weder weltliche noch religiöse Führer: Für eine Politik ohne Chefdenker!
Die Emanzipation der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.
Frei nach den Statuten der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), 1864
I. Oft aktualisiert der Tod die menschlichen Fragen nach der Endlichkeit des Leibs, dem Sinn des Schmerzes, der Vergänglichkeit des eigenen und fremden Lebens. Und häufig hat die Menschheit auf diese Fragen geantwortet indem sie Religionen geschaffen hat. Vor diesem Hintergrund können der Tod von Hugo Chávez und die Ernennung von Fransisco I zueinander in Beziehung gesetzt werden, wie es Nicolás Maduro* gemacht hat: „Wir wissen, dass unser Kommandant (Chávez) in diese Höhen aufgestiegen ist und Christus gegenübersteht. Er muss einen Einfluss auf die Wahl eines südamerikanischen Papstes gehabt haben: die Stunde Lateinamerikas ist gekommen.“ Für uns besteht die politische Problematik nicht in der Krönung eines neuen Papstes oder dem Tod eines Führers, sie begnügt sich auch nicht mit der bloßen Kritik des Populismus oder der Religion. Das fundamentale politische Problem besteht darin, wie wir jene sozialen Beziehungen unterminieren, die Religionen notwendig machen um zu leben und Führer, um Politik zu machen. Für uns besteht die praktische und theoretische Aufgabe, im Allgemeinen, in der menschlichen Emanzipation von allen Formen der Ausbeutung und Unterdrückung; und im Besonderen, in der Erlangung der Autonomie der Arbeiterklasse gegenüber den kapitalistischen Beziehungen.
II. In den Gesellschaften, in denen wir leben, geht man davon aus, dass man keine Regierung organisieren kann ohne Repräsentanten, ohne professionelle Politiker und ohne Spezialisten; an unseren Arbeitsplätzen meint man, es ließe sich nicht produzieren ohne Chefs, ohne Leiter und ohne Techniker; in den Universitäten und den Lehrerkollegien, wo wir uns bilden, behauptet man, wir könnten ohne Verwaltungsfunktionäre und Professoren nicht lernen; in den Gewerkschaften macht man uns weis, dass wir unsere Arbeitsrechte nicht ohne professionelle Anführer, Gewerkschaftsführer und Vordenker verteidigen könnten. Der Gipfel all dieser Annahmen ist die Religion: Alles existierende ist nichts ohne die Gottheit die es geschaffen und die seine Existenz behütet. Wir sind so daran gewöhnt, die Entscheidungen, die unser alltägliches Leben betreffen abzugeben, dass es uns sehr schwer bis unmöglich erscheint, eine Politik ohne leitende Köpfe vorzustellen. Oder anders gesagt: Es erscheint uns verdammt schwer oder gar unmöglich, in unsere eigenen Fähigkeiten zu vertrauen, um diese Entscheidungen zu treffen, die Produktion zu kontrollieren, uns zu bilden und uns selbst zu regieren.
III. Die Existenz von Führern, Chefs, Vordenkern ist Ausdruck einer sozialen Beziehung, in der und für die ein Teil der Gesellschaft die Erfahrung, autonom zu denken und zu entscheiden, erzwungenermaßen und unbewusst an einen anderen Teil der Gesellschaft abtritt. Die Beziehung Anführer/Geführte impliziert die Trennung zwischen zwei vorherrschenden Polen: denen die entscheiden und denen die ausführen, denen die Befehle geben und denen die ihnen folgen, denen die denken und denen die das Gedachte verwirklichen, denen die sprechen und denen die zuhören, den Fähigen und den Unfähigen. Diese soziale Beziehung unterstützt und reproduziert alle Formen der Ausbeutung und Unterwerfung, die wir kennen. Und, im Besonderen, die kapitalistischen Verhältnisse. Unter den kapitalistischen Bedingungen wird die menschliche Produktion zunehmend dem Prinzip der Mehrwertakkumulation untergeordnet. Der Staat garantiert dieses Kommando, ist er doch im Ganzen nicht mehr als der administrative Ausschuss der Interessen der Bourgeoisie. Indem wir alltäglich die Beziehungen von Herrschaft und Gehorsam erhalten und reproduzieren, erhalten und reprodzieren wir auch unsere Unterwerfung unter das Kapital und seinen Staat. In diesem Sinne sollten wir uns davor hüten, das Gemeineigentum mit dem sogenannten öffentlichen Eigentum zu identifizieren. Innerhalb der Grenzen der öffentlichen Verwaltung oder Verstaatlichung des Eigentums, wie menschlich sich das Kapital hier auch immer geben mag, bleibt es weiterhin eine Gruppe von Funktionären, die den ganzen Prozess bestimmen und entscheiden: was für Verbesserungen, Innovationen, Sozialausgaben aufgewendet wird, welchen Anteil die Funktionäre und welchen die Arbeiter erhalten. Die Arbeiterkontrolle, die zum Ziel hat, das „Unausweichliche“ zu unterminieren, anstatt mit einem Programm der Verstaatlichung oder des öffentlichen Eigentums zu leben, damit sich nichts ändert, aber sich alles reformiert, ist die Erfahrung des gemeinschaftlichen Eigentums in den Händen der Produzenten selbst.
IV. Es handelt sich nicht einfach darum zu denken „alles ist möglich!“, als wollten wir den Voluntarismus der Selbsthilfe befördern. Es geht vielmehr darum, mit unseren Genossen und Genossinnen in jedem Bereich des Alltagslebens mit Formen der Selbstorganisation der gesellschaftlichen Produktion zu experimentieren, wirksam, geduldig, beharrlich, rational und fantasiereich. Wenn auch unsere Erfahrung die Vordenker ersetzen kann (ganz gleich ob säkulare oder relgiöse) so bleiben unsere Überlegungen alleine doch abstrakt: nur in der Praxis lassen sich die Beschränkungen und die Möglichkeiten des politischen Strebens nach der Autonomie der Klasse konkret begreifen; und gleichzeitig können wir nur vermittels autonomen Denkens und Erkenntnis, und mittels einer Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem durch unsere eigenen geistigen Kräfte, dieser individuellen und kollektiven Praxis eine unabhängige Richtung geben. Es geht auch nicht darum, schlechte durch gute Anführer zu ersetzen, denn in unseren Augen ist die Beziehung zwischen Führern und Geführten immer ein Gegensatz zu individueller und kollektiver Freiheit und muss daher umgewälzt werden. Denn jenseits der jeweiligen Farben der Beziehung (ob in rot oder gelb)** befinden sich die Geführten immer in einer Verhältnis der Unterwerfung. Auch wenn wir diese Beziehung denken und praktizieren als sei sie die einzige, wissen wir das sie weder göttlich noch natürlich, und deshalb veränderbar ist. Und, zu guter letzt, bevorzugen wir es, in dem Versuch der menschlichen Emanzipation zu scheitern, als Erfolg zu haben mit irgendeiner Politik, die die herrschende Ordnung fördert und reproduziert. Deshalb möchten wir in unserer Theorie und Praxis an die Versuche anknüpfen, die danach streben, neue soziale Beziehungen ohne Anführer und Geführte aufzubauen, Praxen der Selbst-Organisation, in denen wir selbst über unser Alltagsleben bestimmen. Diese Praxen offenbaren gleichzeitig die Fähigkeiten der ProduzentInnen, selbständig über die Produktion zu entscheiden und die Gesellschaft einzurichten, mit allem, was dazu gehört, sei es am Arbeitsplatz, im Viertel, in der Universität oder einem anderen Bereich des Lebens.
*Chávez‘ linksnationalistischer Nachfolger als Präsident Venezuelas. **Rot steht für den chavistischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, Gelb für den Papst und die Kirche.
Zum weiterlesen:
https://revistaamartillazos.wordpress.com/
https://rolandoastarita.wordpress.com/
Antijakobinisch in den Zielen, jakobinisch in den Mitteln?
Grafik aus dem antiautoritär-kommunistischen Milieu Argentiniens (Hervorhebungen von translib)