Bericht über: „Das ‚Nelken‘-Spektakel — Die Mythen knacken“ (10.05.2014)
Auch die zweite Veranstaltung zum PREC in Portugal 1974-75 näherte sich dem Spektakel der „Nelkenrevolution“ über einen doppelten Zugang: zunächst über einen kurzen Einleitungsvortrag der sozio-ökonomischen Art, in dem aufs Nüchternste die Bedingungen und unmittelbare Vorgeschichte der bis Anfang der 1970er Jahre aufgestauten Klassenkämpfe im „Estato Novo“ der Salazar/Caetano-Ära skizziert wurden. Diese politökonomische Klassenanalyse im Zeitraffer führte bis an die Schwelle des Militärputsches, der den PREC auslöste.
Der zweite Teil des Abends setzte dann umgekehrt an den Bildern der oberflächlichsten Sorte ab 1973/74 – nämlich einer Foto-Revue aus einer renommierten portugiesischen Zeitschrift / Sondernummer „Revista“ über die „Nelkenrevolution“ – mythenkritisch deutend an, wobei auch insbesondere deren Bildtexte mit ihren für sich (d.h. ihre typische bürgerliche Ideologie) selbst sprechenden, teilweise schon zynischen, journalistischen Klischees und Sprachbildern „beim Wort genommen“ und mitsamt ihrer den Mythos der „naturnotwendigen“ Klassengesellschaft und der „ewigen“ Notwendigkeit der bürgerlich-kapitalistischen Demokratie reproduzierenden Suggestion konfrontiert wurden mit dem historisch-realistischen Gehalt, der in den Fotos trotz deren Arrangiertseins doch zu sehen bleibt. So verrieten diese Bilder jedesmal das Moment des „Wahrwortes“ oder Wahrheitskerns des Mythos, dessen „Lügenwort“ oder „-hülle“ in der Kontinuität der „leeren, mythischen Zeit“ (Walter Benjamin) zunächst das übergreifende Moment im Augenschein des historisch und persönlich „Erlebten“ („vécu“) ist (z.B.: kapitalistischer Alltag der Ausbeutungsordnung = „Kapitalinvestitionen; normales Leben in Ordnung und Sicherheit“; ihre revolutionäre Unterbrechung und Aufkündigung = „Arbeiterüberwachung und Arbeitslosigkeit; Chaos, Auflösung, Bürgerkrieg“ …). So stand am Ende dieses Bilder-Narrativs von der „friedlichen Transformation“ ein „progressiver General“ als putschender Befreier-zur-Demokratie aktivistisch den passiven Statisten/Zuschauern namens „Volk“ gegenüber, wie die „antifaschistischen Hauptleute“ am Anfang; dergestalt dass die Retuschierung des zwischendurch zwangsläufig „ins Bild gekommenen“ aktiven Proletariats durch den Bildtext und durch die Bildabfolge das A & O dieser mythischen Revolutionsreportage einer sozialdemokratisch-konservativen Redaktion von heute ist. Der Amnesie dieser „vergessenen“ Revolution und einer ständigen Verdrehung von Kontinuität und Diskontinuität war hier nur beizukommen, indem sich die Deutung des Bildmaterials von den Sprüngen (der willkürlich-manipulativen Diskontinuität) in seinem Erzähl-Arrangement zu den korrigierenden bzw. ergänzenden Fakten-Assoziationen leiten bzw. anstoßen liess, die überhaupt erst die ereignisgeschichtliche Kontinuität rekonstruieren halfen, aus der heraus die wahre, wirkliche, mythos-sprengende Diskontinuität – das bewusste, erwachende Unterbrechen und Stillstellen ihres „ewigen“ Klassen-„Schicksals“ durch die ungeheure Mehrheit der ausgebeuteten Menschen mittels ihrer selbsttätig handelnden Kommunikation (und keineswegs repräsentierbar als “schweigende Mehrheit“ eines Wählervolks in seiner Kontinuität der Parlamentswahlen) – erst begreiflich wird. Bei dem Versuch, entlang den spektakulären Bildern die Ereignisgeschichte und ihre Klassen-Interessen-Triebkräfte skizzenhaft zu resümieren, stiessen wir zugleich auf die linken, revolutionsromantischen Mythen, die in der historischen Konstellation: Portugals unentwickelte, ungleichmäßige und isolierte sozio-ökonomische Lage / Blockkonfrontation und NATO-Bedrohung / Euphorie und Lähmungen, Spaltung und Vertrauenssucht, „Furcht vor der Freiheit“ und „realistische Resignation“ … auch in diesem letzten großen Anlauf im Westen des 20. Jahrhunderts „zu Grunde gehen“ mussten. Bei dieser Art spektakelkritischer Einführung-als-Anamnese wurde insbesondere der Mythos von der „Kommunistischen Partei Portugals“ (der stalinistischsten im Westen und entsprechend konterlinks) immer wieder angeknackst. Wie aber verhielt es sich demgegenüber in Wahrheit mit dem Grad der vielfach bezeugten Arbeiter_innen-„Autonomie“, ihrer „Räte“-Organisationsansätze, wo waren ihre wirklichen Grenzen genau?!
Diese Fragen konnten noch bei weitem nicht schlüssig beantwortet werden; wir werden die Fragestellung weiter vertiefen müssen bei dem großen Workshop (Christi Himmelfahrt) und in der Diskussion mit den portugiesischen Genossen (20./21.06.), die von dem höchst empfehlenswerten Buch Phil Mailers (2012) in den Raum gestellt worden ist: “Portugal – Die unmögliche Revolution ?” und zugleich: “Die portugiesische Erfahrung ist modern in jeder Hinsicht, ebenso wie die portugiesische revolutionäre Bewegung”.
Das männlich-fordistische Proletariat marschiert: Bild einer Arbeiter-Demonstration vom 7. Februar 1975, die trotz staatlichen Verbotes statt fand und sich im Namen der „Autonomie“ explizit gegen alle Parteien gerichtet hat. Der maskulinistische, quasi industriell-soldatische Charakter springt ins Auge; Stärke und Schwäche des damaligen Proletariats in Portugal sind in dem Bild vereint.
Im Folgenden der überarbeitete Einleitungsvortrag:
Der erste Mythos, der widerlegt werden soll, ist der vom Übergang von der faschistischen Diktatur zur bürgerlichen Demokratie, der in vielen Darstellungen der Nelkenrevolution so vorgestellt wird, als ob dieser Vorgang allein schon aus den politischen Erwägungen der an diesem Prozess beteiligten Individuen, immer bestimmter Politiker oder Militärs, erklärt werden könnte. Bei Marx und Engels findet man ein paar Andeutungen zur Kritik dieser verkehrten Vorstellung, die man vielleicht als Staats- oder Politikfetischismus bezeichnen kann und die auf dem Schein basiert, dass die gesellschaftlichen Aktionen allein aus den politischen Bedürfnissen und dem Willen der politischen Subjekte zu erklären seien, und dass nicht etwa – umgekehrt – sich in letzter Instanz in den politischen Formen immer zugrundeliegende ökonomische Bedürfnisse ausdrücken. Allerdings ist die Ökonomie dann nicht einfach ein gesellschaftlicher Teilbereich neben anderen, sondern soll im umfassenden Sinne verstanden werden: als die Produktion des materiellen Lebens und auch als Kampf um die Bedingungen dieser Produktion. Im folgenden soll also der Mythos von der Geburt der Revolution aus dem Willen der Politiker kritisiert werden, durch eine vielleicht etwas trockene Skizze der Geschichte Portugals im 20. Jahrhundert bis an die Schwelle der Nelkenrevolution, vor allem in ökonomischer Hinsicht.
Die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 führte zum Sturz des faschistischen Regimes. Diesem Regime, das sich selbst „Neuer Staat“ („Estado Novo“) nannte, ging eine relativ kurze und turbulente Phase der bürgerlichen Demokratie von 1910 bis 1926 voraus, die von ständigen Machtkämpfen und Aufständen, ausgehend von verschiedenen Parteien, geprägt war. Oft putschten sich zeitweilig reaktionäre pro-monarchistisch-klerikale Gruppen an die Macht, die dann wieder durch pro-demokratische Konterputsche progressiver Militärs zurückgeschlagen werden konnten. Zugleich war diese Zeit, wie überall in Europa nach dem 1. Weltkrieg, von massiven Klassenkämpfen geprägt. 1919, 1920 und 1921 wurde jeweils jedes Jahr der Generalstreik ausgerufen, wodurch der 8-Stunden-Tag erkämpft wurde. Daraufhin erklärte man den 6-Stunden-Tag zum Kampfziel der Arbeiter_innenbewegung. Der führende Gewerkschaftsbund bekannte sich zum Anarchismus und trat der anarchistischen Internationalen-Arbeiter-Assoziation bei. Die kleinbürgerlichen Schichten (z.B. die kleinen Gewerbetreibenden oder landbesitzenden Bauern), die damals einen großen Teil der portugiesischen Bevölkerung ausmachten und zuvor noch die Beseitigung der Monarchie und die Errichtung der Republik begrüßt hatten, waren mit der chaotischen Situation zunehmend unzufrieden. Das Großbürgertum sympathisierte mit einem Staat nach der Art, wie ihn die Faschisten in Italien errichtet hatten. 1926 putschte die Armee gegen die untereinander völlig zerstrittenen und korrupten Bürger, die zu der Zeit die Staatsmacht verwalteten. Die Putschisten hatten aber am Anfang überhaupt kein wirtschaftliches Programm, sodass das von ihnen beklagte Finanzdefizit noch bis an den Rand des Staatsbankrotts gesteigert wurde. Zur Lösung dieser ökonomischen Probleme wurde 1928 der Professor für Nationalökonomie, António de Oliveira Salazar, zunächst als Finanzminister mit umfangreichen Vollmachten verpflichtet.
Sein Programm bestand vor allem darin, die oppositionellen Parteien, die Gewerkschaften und überhaupt die bürgerlichen Grundrechte aufzulösen und den Klassenkampf mittels der Polizei zu unterdrücken. Die 1933 verabschiedete Verfassung des sogenannten „Estado Novo“ (auf deutsch: der „Neue Staat“), die sich stark am faschistischen Italien orientierte, schrieb eine Einparteienherrschaft und die Organisation von Arbeiter_innen und Unternehmern in einem korporativen System fest. Das Ziel der Faschisten war, eine Art repressive und patriarchale Harmonie herzustellen, indem der Gesellschaftskörper gewaltsam in einen hierarchischen Ständestaat hineingezwängt werden sollte. Die sich zersetzenden gesellschaftlichen Zustände des 19. Jahrhunderts sollten konserviert und die rückständige Existenzform einer unentwickelten Bourgeoisie erhalten werden, um der krisenhaften modernen kapitalistischen Produktionsweise auszuweichen. Das portugiesische Kapital war damals vor allem ein Banken- und Handelskapital, also eine Form des Kapitals, die für die Periode des Frühkapitalismus charakteristisch gewesen ist. Ein industrielles Kapital und damit eine genuin kapitalistische Produktionsweise gab es in Portugal damals praktisch nicht. Ohne also diese neue gesellschaftliche Reproduktionsbasis zu entwickeln, konnte sich das zurückgebliebene portugiesische Bürgertum nur „parasitär“ auf Grundlage der Ausbeutung und der Plünderung der Kolonien erhalten. Die Funktion des salazaristischen Staates war es, diesen gesellschaftlichen Zustand für ein primitives Bürgertum und die Großgrundbesitzer zu konservieren. Die ideologische Einheit des – aufgrund mangelnder Zentralisation – zersplitterten und lokalbornierten portugiesischen Gesamtkapitals repräsentierte das Regime mit seinem hysterischen Nationalismus. Die Armee als Vollzugsorgan trat an die Stelle einer politisch selbstbewusst auftretenden bürgerlichen Klasse.
Indem die Konflikte innerhalb der Bourgeoisie sowie zwischen ihr und dem Proletariat, wie sie die Phase der 1. Republik gekennzeichnet haben, einfach still gestellt wurden, konnte damit auch zunächst die Grundlage für eine progressive gesellschaftliche Entwicklung beseitigt werden. Denn diese Konflikte sind immer die Erscheinungsformen der Entwicklung einer neuen Produktionsweise. Erst im Kampf der verschiedenen Fraktionen des Bürgertums untereinander kann sich ein durchschnittliches Gesamtinteresse dieser Klasse herausbilden und kann sie zugleich in ihren eigenen Reihen die Agenten überkommener ökonomischer Verhältnisse loswerden. Die Entwicklung der Arbeiter_innenklasse konnte dadurch niedergehalten werden, indem man ihre Kampforganisationen zerschlug. Hinzu kommt die künstliche Beschränkung ihres Lebensniveaus auf ein physisches und kulturelles Minimum. Salazar zufolge musste und sollte es in einer ordentlichen Ständegesellschaft eine Menge „arme Leute“ geben.
Aber spätestens als während des 2. Weltkriegs die wichtigsten Importquellen Portugals blockiert waren, musste endlich der Aufbau einer eigenständigen nationalen Industrie in Angriff genommen werden, der dann ideologisch zum „nationalen Aufbau“ stilisiert wurde. Statt die kapitalistische Entwicklung weiter zu bremsen, musste der salazaristische Staat jetzt also zum Schrittmacher für diese werden. Für die Jahre von 1953 bis 1958 stellte man einen ersten 6-Jahres-Plan auf, der die Schaffung einer elementaren Infrastruktur beinhaltete, die im rückständigen Portugal noch gar nicht vorhanden war. Dem Regime stand damals eine „autarkistische“ Industrialisierung aus eigener Kraft vor Augen. Für das ausländische Kapital war Portugal sowieso nicht attraktiv, aufgrund der unterentwickelten Produktionstechnik und der unvorteilhaften geographischen Lage. Aber auch die portugiesischen Bürger investierten kaum in die neu entstehende Industrie, weil sie weiterhin nicht bereit waren, ihre „gemütlichen“ und sicheren Investitionen in die unproduktiven Sektoren des Handels und kapitalarmer Produktionssphären aufzugeben. Im Zentrum des zweiten 6-Jahres-Plans für die Jahre 1959-1964 stand deshalb die Politik einer staatlichen Förderung der Industrie im Mittelpunkt. Der Staat stellte einen ausreichend großen Kapitalanteil für private Investoren bereit, der dann im Laufe der Zeit privatisiert werden sollte. Dadurch konnten einige Großunternehmen entstehen, die sich aber vor allem auf Industrien konzentrierten, die sehr arbeitsintensiv sind, in denen also die Möglichkeiten zur Steigerung der Produktivität und damit zur Entwicklung des Kapitals eher begrenzt sind. Darunter zählt vor allem die Textilproduktion, die bis zum Sturz des faschistischen Regimes der wichtigste Industriezweig Portugals geblieben ist. Hier zeigt sich ein Widerspruch, der für das Regime vielleicht zum Dilemma geworden ist: einerseits bestrebt zu sein, die modernste Industrie aufzubauen, aber andererseits auf die rückständigsten, noch manufakturmäßig geprägten Produktionszweige beschränkt zu sein. Der Zwang zur Entwicklung der Wirtschaft verstärkte sich noch mit der internationalen Weltmarktkonkurrenz und konnte nur durch die Anziehung ausländischer Kapitalinvestoren realisiert werden. Dafür musste Portugal aber allmählich seine protektionistische und auf Autarkie gerichtete Politik der Schutzzölle aufgeben und sich in den westeuropäischen Markt integrieren, was den Druck noch weiter verschärfte. Seit Mitte der 60er Jahre investierte das ausländische Kapital, angezogen besonders durch die billigen Arbeitskräfte, verstärkt in die portugiesische Wirtschaft und gab der Industrialisierung einen weiteren Schub. Das musste zum Zusammenstoß zwischen der kapitalistischen Produktion und der kleingewerblichen führen, die naturgemäß der ersteren unterlegen und tendenziell zum Zusammenbruch verurteilt ist. Wichtig ist hierbei, dass die meisten Mitglieder der „Bewegung der Streitkräfte“ (MFA), die später gegen das faschistische Regime putschte, aus kleinbürgerlichen Schichten stammten. Die großzügige Versorgung der Industrie mit Krediten hatte eine inflationäre Wirkung, führte also zu verteuerten Preisen, was besonders die am Existenzminimum gehaltenen Arbeiter_innen traf, die sowieso schon zu den ärmsten in ganz Europa gehörten. Viele emigrierten deshalb in andere europäische Länder, sodass 1973 1,5 Millionen Portugiesen, also ein Sechstel der Gesamtbevölkerung, im Ausland lebten und es in Portugal deshalb an Arbeitskräften mangelte. Dazu kamen noch die Kriege in den Kolonien, an denen das faschistische Regime starr festhielt, die fast die Hälfte des Staatshaushaltes belasteten und größtenteils aus den Akkumulationsfonds des Kapitals über verschiedene Steuerlasten bestritten werden mussten. Diese großen sozialen Umwälzungen und Verwerfungen zwischen den verschiedenen Klassen, die immer mehr dazu drängten, ihre Interessen öffentlich zu äußern und für diese zu kämpfen, mussten den starren salazaristischen Ständestaat sprengen. Die Frage war dann eigentlich nur noch: Wer und Wann?
Zum Akteur des Umsturzes der alten Diktatur wurde das MFA („Movimento das Forças Armadas“, auf deutsch: „Bewegung der Streitkräfte“), ein Verschwörungsnetzwerk oppositioneller Offiziere, von denen die meisten in den Kolonien gedient hatten. Sie einte das Ziel, den Krieg gegen die dort kämpfenden Unabhängigkeitsbewegungen einzustellen und in Portugal eine Demokratisierung des Staatsapparates einzuleiten. Dass so eine Art von Zusammenschluss überhaupt möglich war, hängt mit der Zersetzung des traditionellen Klassencharakters des Offizierskorps zusammen, infolge der Reform der Militärakademie von 1958. Während zuvor fast nur die Söhne der Aristokratie und der privilegierten Schichten zu Offizieren ausgebildet wurden, musste sich diese Einrichtung infolge sinkender Rekrutierungszahlen auch für junge Männer aus dem städtischen Kleinbürgertum und dem ländlichen Proletariat öffnen. Außerdem mussten die Offiziere in den Kolonien mit den einfachen Mannschaftsgraden zusammenleben, und das waren oft frisch von der Universität abgegangene Studenten, die sich dort politisiert hatten. Die Universitäten waren damals die Zentren des linken politischen Widerstandes und es kam schon Anfang der 60er Jahre zu mehreren Studentenrevolten. Viele der aus dem unteren Kleinbürgertum kommenden Offiziere sehen zunächst eine Karriere in der Armee als Aufstiegschance an, die aber enttäuscht wird vom niedrigen Sold, den gefährlichen und demoralisierenden Lebensbedingungen in den Kolonialkriegen und auch das geringe Ansehen in Portugal, wo damals viele Offiziere auf der Straße einfach beschimpft werden.
Neben dieser Gruppe sind auch andere Teile aus der herrschenden Klasse unzufrieden mit der Unflexibilität des faschistischen Staatsapparates. Sie fordern eine stärkere und schnellere Öffnung gegenüber dem westeuropäischen Markt und treten für eine neokoloniale Lösung ein, d.h. für eine formale Auflösung des Kolonialstatus der besetzten Gebiete bei fortdauernder ökonomischer und politischer Abhängigkeit. Der wichtigste Vertreter dieser Gruppe ist General António de Spínola, der stellvertretende Generalstabschef der portugiesischen Armee, der im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Faschisten gedient hatte und im Zweiten Weltkrieg mit der in Spanien rekrutierten sogenannten „Blauen Division“ unterwegs gewesen war, die zusammen mit den deutschen Truppen gegen die Sowjetunion kämpfte. Manche bezeichnen Spínola darum als Reformfaschisten.
Im Februar 1974 veröffentlicht er das Buch „Portugal und seine Zukunft“, in dem er den Plan für eine Föderation zwischen Portugal und den Kolonien skizziert, wofür er im März 1974 von seinem Posten enthoben wird. Die Offiziere des MFA beschließen daraufhin endgültig die Absetzung des alten Regimes durch einen Aufstand, der dann am 25. April 1974 stattgefunden hat – auf den ersten Blick und dem Mythos vom nahezu unblutigen Coup entsprechend einzig durch die hervorragend organisierte Leitung seitens Otelo de Carvalho. Wie aber Charles Reeve in seiner Zusammenfassung vom Mai 2014 noch einmal betont:
„Heute ist es eine anerkannte Tatsache, dass die Akte der Auflehnung und Meuterei der Soldaten in denjenigen Einheiten, die man für dem alten Regime treu ergebene hielt, gerade ein entscheidender Faktor waren für den Erfolg des Putsches vom 25.April.“ (Charles Reeve: „Das Unvorhersehbare – unser Territorium“, S.1)